Was ist unter «Open Educational Resources» (OER) zu verstehen?
Das sind Ressourcen, die zu Lehr- und Lernzwecken entwickelt werden, Videos und Präsentationen etwa, aber auch Lehrpläne oder Online-Kurse. Ganz wichtig: sie stehen unter einer freien Lizenz und können nicht nur kostenlos genutzt, sondern auch verändert und erweitert werden.
In welcher Tradition bewegt sich OER, was sind die Ursprünge?
«Open Educational Resources» gehört zu derselben Bewegung wie Open-Access: Möglichst alle Menschen sollen einen offenen Zugang zu wissenschaftlichen Arbeiten haben. Man kann noch weiter zurückgehen bis in die frühen 1970er Jahre. Die Informatik legte schon sehr früh die Quelltexte von Software offen, wie zum Beispiel beim Betriebssystem Linux oder beim Webbrowser Firefox.
Welche Haltung steht hinter Open Educational Resources?
Seit 2002 befeuert die UNESCO den internationalen Diskurs, wie Bildungsmaterialien weltweit verfügbar gemacht werden können. Sie sieht in OER riesiges Potenzial, die Qualität der Bildung weltweit zu verbessern. Allein in der Schweiz geben Bund, Kantone und Gemeinden pro Jahr rund 36 Milliarden Franken für Bildung und Forschung aus. Mit diesen Steuergeldern werden Bildungsressourcen entwickelt, die meist in geschlossenen Systemen bleiben. Gleichzeitig entwickelt sich unsere Gesellschaft hin zu einer weltweiten «Wissensallmend».
«Allmend» als Begriff, der anknüpft an die bäuerliche Tradition, wo auf gemeinschaftlichem Grund Vieh weidet …
Genau, denn heute kann auch Wissen grundsätzlich weltweit uneingeschränkt genutzt, überprüft und schnell weiterentwickelt werden. Wissen wird zum Gemeingut.
Erhöht sich damit die Chancengleichheit?
Das ist tatsächlich ein Treiber für die Unesco und OER-Engagierte. Es gibt auf der ganzen Welt Menschen, die keinen freien Zugang zu qualitativ guter Bildung haben. Oder denken wir an das Stichwort «lebenslange Lernen»: Nicht jeder, der sich etwa intensiv mit Thermodynamik auseinandersetzen will oder muss, kann ein vielsemestriges und eng getaktetes Studium absolvieren.
Was bedeutet OER für das Selbstverständnis von Lehrpersonen? Warum sollten sie ihre in vielen Stunden erarbeiteten Materialien frei zur Verfügung stellen?
Ich erlebe in unseren Kursen, dass die Dozierenden den gegenseitigen Austausch ausserordentlich schätzen. Gemeinsam reichern sie Konzepte an und entwickeln Unterrichtsmaterialien weiter. Ganz ähnlich funktioniert die Arbeit mit OER, nur dass die Kolleginnen und Kollegen irgendwo auf der Welt sitzen können. Früher reichten Lehrpersonen einander Papierordner weiter. Heute eröffnen sich mit dem offen lizenzierten Material neue Wege.
Ist die OER-Bewegung eine Eintagsfliege?
OER-Engagierte wollen das Gegenteil. Sie wollen nachhaltige Bildung: Der Zyklus von Geben und Nehmen trägt dazu bei. OER inspiriert und nährt den Elan, die Profession zu leben.
Schaffen sich Lehrpersonen mit OER nicht irgendwann selber ab?
Vielmehr stellt sich die Frage, ob wir es uns leisten wollen, dass Lehrpersonen das Rad auch dann neu erfinden, wenn bereits attraktive Bildungsressourcen vorliegen. Sollten sie ihre Zeit nicht vielmehr dafür nutzen, bestehendes Material auf ihre Stadt, auf ihre Klasse zuzuschneiden oder auf die individuellen Bedürfnisse ihrer Studierenden einzugehen? Übrigens können auch die Studierenden in OER-Konzepte einbezogen werden, in dem sie selbst neue Materialien entwickeln und zur Verfügung stellen. Das motiviert und macht Spass, Studierenden und Lehrenden.
Können Sie an einem Beispiel erklären, wie das funktioniert?
Nehmen wir das Thema «Müll»: Die Dozentin könnte ihre Studierenden beauftragen, ausgewählte Studien zu vergleichen und daraus Handlungsempfehlungen abzuleiten. Diese sollen die Studierenden auf unterhaltsame Art auf stark vermüllten öffentlichen Plätzen umsetzen und in einem Kurzfilm festhalten. Diesen Film könnten sie dann zusammen mit relevantem Material unter offener Lizenz publizieren. So können Gemeinden, andere Dozierende, oder Studierende dieses Gemeingut nutzen.
Gibt es Risiken oder Gefahren von OER?
Wie überall gibt es auch hier schwarze Schafe, die sich nicht an die Spielregeln halten, die Cc-Lizenzen brechen und dann ihr eigenes Copyright darauf setzen und Inhalte verkaufen. Aber auch geschlossene Systeme können nicht verhindern, dass widerrechtlich Materialien abgezogen werden und jeder weiss, wie aufwändig es ist, Plagiate aufzudecken. Die Haltung von OER-Engagierten ist anders: Sie öffnen den digitalen Raum aktiv mit den Regeln der CC-Lizenz und geben der Bildung zukunftsweisende Impulse.
Wie gestaltet sich die internationale Entwicklung?
Es lohnt sich sehr, die Entwicklungen in anderen Ländern zu studieren, weil sich im Moment sehr Vieles sehr schnell bewegt. Nach millionenschweren Förderprogrammen in Deutschland startet Berlin beispielsweise mit Digitalbotschafter/-innen an Pilotschulen. Diese erstellen für eine OER-Medienplattform gemeinsam Lehr- und Lernmaterialien. In Norwegen produziert eine Digital Learning Arena (NDLA) hochwertige OER für alle Fächer, die unterrichtet werden. Und in Österreich diskutiert man ein nationales Modell, um OER-Lehrpersonen und Hochschulen zu zertifizieren. Und in Deutschland und in England gibt es Open Universities.
Was hat die Schweiz bezüglich OER vor?
Genau das wollen wir an der ersten internationalen Konferenz zu OER in der Schweiz diskutieren. Die Kernfrage lautet: Soll die reiche Schweiz Offenheit fördern und sich international mit ihren ausgewählten Bildungsressourcen zeigen? Der Zeitpunkt ist günstig, wir können auf den Erfahrungen anderer Länder aufbauen und an der Konferenz die Frage diskutieren «Is it your tOERn?»
Interview: Sigrid Cariola
Weitere Informationen
Internationale Konferenz:
Am 28. und 29. Januar 2019 findet in Luzern die erste internationale Konferenz in der Schweiz zum Thema «Open Educational Resources» statt. Organisiert wird sie von der Hochschule Luzern und der Pädagogischen Hochschule Luzern. www.openlearningdays.ch
«Bildung überdenken: Ein globales Allgemeingut?», Schweizerische, Deutsche und Österreichische Unesco-Kommission 2016
Dreiteilige Videoserie auf YouTube:
Was sind OER?
Wie findet man OER?
Woran erkennt man OER?