20 Augenpaare schauen gespannt nach vorne, 40 Ohren sind gespitzt: Die Querflöte spielt mit hellem Klang «Ein Männlein steht im Walde, ganz still und stumm …». Danach folgen die satten Töne von Posaune und Saxofon. Die Kinder, zwischen acht und zehn Jahren alt, applaudieren begeistert. Und endlich dürfen sie die Instrumente selbst ausprobieren – die Querflöte gefällt wegen ihrer schlanken Form und ihres silbernen Glanzes, aber mit dem Saxofon lässt sich’s lauter spielen und der Posaune kann man besonders lustige Töne entlocken.
Dass die Klasse 3b der Schule Fluhmühle in Luzern Reussbühl an dieser Unterrichtsstunde Spass hat, ist offensichtlich. Das «Intermezzo» dient allerdings auch einem höheren Zweck: Die Klasse ist seit dem neuen Schuljahr Teil des Projekts «Klassenmusizieren» im Kanton Luzern, das von der Hochschule Luzern während der kommenden zwei Jahre wissenschaftlich begleitet wird. «Ziel ist es, zu untersuchen, wie sich ein solches Lernprojekt auf den Zusammenhalt in der Klasse und auf die soziale Entwicklung der Kinder auswirkt», erklärt Suse Petersen, Projektleiterin seitens Hochschule.
Grösste Hürden: Einkommen und Bildung
Daten des Bundesamts für Statistik zeigen, dass bei der musikalischen Erziehung in der Schweiz grosse Ungleichheiten bestehen – der Zugang hängt ab vom Einkommen, der Bildung und der Herkunft des Elternhauses. Bewusst wurden für das Projekt daher vier Klassen an drei Primarschulen ausgewählt, an denen besonders viele Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund unterrichtet werden.
An der Schule Fluhmühle lernen insgesamt 250 Kinder, nur 19 von ihnen besuchen nebenher eine Musikschule. «In vielen Kulturen ist es nicht üblich, für den weiterführenden Musikunterricht extra zu zahlen. Auch können sich das viele Familien mit ausländischen Wurzeln schlichtweg nicht leisten», sagt Christina Schneider, Klassenlehrerin der 3b. Umso begeisterter hat ihre Klasse auf das Projekt reagiert.
Dort steht jedoch gerade eine schwierige Aufgabe bevor: Die Musikinstrumente müssen verteilt werden. Nicht jedes Kind kann sein Wunschinstrument bekommen. «Wir wollen ein breit aufgestelltes Bläserensemble bilden», so Schneider, «dafür brauchen wir neben der Querflöte, dem Saxofon und der Posaune auch Tuba, Euphonium und Klarinette.» Die Mädchen und Jungen stammen aus insgesamt zwölf Nationen – von Afghanistan bis Sri Lanka. Blasinstrumente, wie sie in der Schweiz in jeder Dorfkappelle gespielt werden, kennen die wenigsten von ihnen.
Damit sie sich überhaupt für ein Instrument entscheiden können, dürfen sie dieses nicht nur ausgiebig testen, sondern werden auch im Umgang damit geschult. «Und das Notenlesen lernen sie dann natürlich ebenfalls», sagt Schneider, die selbst seit vielen Jahren Klarinette spielt.
Es geht auch darum, zu lernen, dass man nicht immer haben kann, was man will. Christina Schneider, Klassenlehrerin, Fluhmühle
Unterstützt wird die Klassenlehrerin von einer weiteren Musiklehrperson. Während des Projekts werden zwei Musiklektionen pro Woche in den normalen Unterricht integriert. «Die Kinder müssen zusätzlich zu Hause üben.» Das bedeutet dann eben, diszipliniert und selbstständig zu arbeiten, das teure Instrument nicht nur spielen zu können, sondern auch sorgsam zu behandeln.
Gemeinsame Erfolge stärken das Miteinander
Doch bevor es so weit ist, diskutieren die Kinder noch darüber, wer von ihnen eines der beiden Saxofone spielen darf. Einige sammeln schon fleissig Stimmen ihrer Klassenkameraden, andere wünschen sich einen fairen Vorspiel-Wettbewerb: «Es geht auch darum, zu lernen, dass man nicht immer haben kann, was man will, sondern einen Wunsch hinterfragen muss», so Schneider. Ist das Lieblingsinstrument vielleicht gar nicht das richtige, weil es zu gross oder zu schwer ist? Weil das Mundstück unbequem und der Zusammenbau komplizierter als gedacht ist? Oder weil ein Mitschüler, eine Mitschülerin schon besser damit umgehen kann?
Dieses komplexe Zusammenspiel von Sozial- und Lernverhalten zu evaluieren, steht dann auch im Zentrum der begleitenden Forschung der Hochschule Luzern. «Wir gehen davon aus, dass das Musizieren einen positiven Effekt auf die persönliche Entwicklung der Kinder haben wird und gemeinsame Erfolgserlebnisse das Miteinander stärken», sagt Projektleiterin Suse Petersen. Aus diesem Grund werden in regelmässigen Abständen Interviews und Tests mit den Kindern und ihren Lehrpersonen durchgeführt und mit Klassen ausserhalb des Projekts verglichen. Wie die Kinder mit der Musik wachsen und ob sich allenfalls sogar versteckte musikalische Talente offenbaren, das werden nicht nur die Beteiligten selbst, sondern auch das Publikum erfahren: bei regelmässigen Auftritten der Kinder und einem Abschlusskonzert im Frühling 2020.
Autorin: Simone Busch
Fotos: Priska Ketterer