In der Schweiz werden Kinder vernachlässigt, psychisch und körperlich misshandelt und sexuell missbraucht. Das weiss man. Aber wie hoch die Zahl der erfassten Fälle bei den Organisationen genau ist, ob es kantonale Unterschiede gibt, ob in allen Kantonen die Fälle gleich gut erkannt und betreut werden – das wusste man bisher nicht. Denn es gibt keine Datenbank, die alle Fälle von Kindeswohlgefährdung einheitlich erfasst. Und das, obwohl die Uno seit Jahren eine solche Datenbank im Rahmen der Kindesschutzkonvention anmahnt.
Eines der Probleme sind die vielen Stellen: erstens strafrechtliche Organe wie Polizei oder Staatsanwaltschaft, zweitens zivilrechtliche wie Soziale Dienste oder die Kindes- und Erwachsenen-Schutzbehörden (KESB) und drittens Institutionen im Sozial- und Gesundheitswesen wie die Kindesschutzgruppen der Spitäler und Opferberatungsstellen. Diese Organisationen arbeiten in Einzelfällen durchaus zusammen, aber darüber hinaus tauschen sie sich noch zu wenig aus.
Zudem erfassen sie die Fälle von Kindeswohlgefährdung nicht nach gleichen Massstäben, weil etwa Mediziner und Juristen unterschiedliche Fachbegriffe nutzen. Manches lässt sich leicht zusammenfassen, beispielsweise wenn eine Organisation das Geschlecht mit «weiblich», die andere mit «w» erfasst. Kompliziert wird es jedoch, wenn etwa eine Stelle Nötigung erfasst, ohne zu spezifizieren, ob es sich um körperliche oder psychische Gewalt handelt, und andere den juristischen Begriff gar nicht benutzen.
Daten vereinheitlichen und auswerten
«Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass wir in der Schweiz nicht wissen, wie viele misshandelte und vernachlässigte Kinder wir erreichen», findet Projektleiter Andreas Jud vom Departement Soziale Arbeit der Hochschule Luzern. Zusammen mit René Knüsel vom Observatoire Maltraitance envers les Enfants der Universität Lausanne, der die Region Westschweiz in der Studie abdeckt, will er zeigen, dass es möglich ist, eine schweizweite Datenbank zu schaffen.
Um verlässliche Daten zu bekommen, haben die Projektmitarbeitenden für den dritten Teil der Optimus-Studie «Häufigkeit von Kindeswohlgefährdung, Unterstützungsmassnahmen sowie Schutz- und Hilfsangebote in der Schweiz» die beteiligten Einrichtungen von Anfang an ins Boot geholt. «Wir wollten, dass möglichst viele Organisationen ihre Daten in eine Datenbank hochladen, damit wir die Daten dann vereinheitlichen und auswerten können», sagt Andreas Jud. Dafür hat das Team von Jana Koehler vom Departement Informatik der Hochschule Luzern nach einer Methode gesucht, die für die Organisationen nur wenig zeitintensiv sein sollte.
Es braucht mehr Wissen, mehr Austausch zwischen den Akteuren.
Die Lösung war eine Art «bessere Dropbox», wie es Jud beschreibt. Die Institutionen anonymisieren ihre Daten und laden sie hoch, die Informatiker bringen die technischen Systeme zusammen und vereinheitlichen die Daten nach Vorgaben des Departements Soziale Arbeit. 351 Einrichtungen des Kindesschutzes stellten Informationen über die von ihnen neu erfassten Fälle zwischen September und November 2016 zur Verfügung. Der kurze Zeitraum wurde gewählt, um den Aufwand für die Beteiligten überschaubar zu halten und nachträgliche Rückfragen zu ermöglichen.
Grosse regionale Unterschiede
Die Ergebnisse zeigen, dass es allein in diesen drei Monaten über 10’000 neue Fälle gab. Pro Jahr entspricht das zwischen 30’000 und 50’000 Kindern, die neu oder wieder bei einer Kindesschutzorganisation Hilfe suchen. Vermutlich ist das aber nur die Spitze des Eisbergs. Die Auswertung der Datensätze zeigt ausserdem, dass grosse regionale Unterschiede in der Erfassung der Fälle bestehen: «Es hängt vom Wohnort ab, welche Unterstützung ein Kind erhält », heisst es in der Broschüre, in der die Autorinnen und Autoren ihre Ergebnisse publizieren.
Anders lässt sich nicht erklären, dass in Zürich auf 10’000 Kinder 107 Fälle von Kindeswohlgefährdung kommen, während es im Tessin nur 26 sind und die anderen Regionen dazwischenliegen (siehe Grafik). Zudem scheinen die Kindesschutzorganisationen die gleichen Formen von Kindeswohlgefährdung nicht gleich häufig für Jungen und Mädchen zu erfassen. So werden körperlich misshandelte Jungen eher erkannt, psychisch misshandelte seltener. Möglicherweise werden Gefährdungen je nach Geschlecht unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt.
Werden Misshandlungen zu spät erkannt?
Ein weiterer Fakt ist noch besorgniserregender: Die Kinder kommen wegen körperlicher Misshandlungen erst spät mit den Schutzorganisationen in Kontakt, sie sind im Schnitt älter als zehn Jahre. Dabei ist bekannt, dass auch schon deutlich jüngere Kinder physische und psychische Gewalt erleben. «Das Resultat könnte darauf hindeuten, dass körperliche Misshandlung hierzulande in einigen Versorgungsbereichen erst sehr spät erkannt oder als solche bewertet wird», heisst es in der Broschüre.
Was muss jetzt passieren? «Wir müssen mehr über die Funktionsweise des Kindesschutzes in der Schweiz wissen, um die Schwächen gezielt angehen zu können », sagt Andreas Jud. Es brauche mehr Wissen, mehr Austausch zwischen den Akteuren und vor allem den Willen, den Kindesschutz zu stärken. Dafür ist eine verbesserte, standardisierte Datenerhebung im Sinne eines Monitorings nötig. Andreas Jud: «Unsere Studie hat gezeigt, dass das möglich ist. Trotz aller Probleme.»
Autorin: Valeria Heintges
Quelle Grafik: Broschüre Optimus-Studie