Zuerst schliesst der Dorfladen, als Nächstes die Post und dann die Schule. Zum Schluss wird auch noch der Bancomat aufgehoben: So geht es vielen Dörfern in abgelegenen Bergtälern. Um elf Prozent hat die Bevölkerung zwischen 1981 und 2010 im Schweizer Alpenraum abgenommen, insbesondere die Jungen und Hochqualifizierte ziehen weg. Auch Teile des Kantons Uri sind von Abwanderung betroffen. Doch seit der Investor Samih Sawiris 2013 in Andermatt ein grosses Tourismusresort eröffnet hat, bieten sich dem Urner Oberland neue Perspektiven.
Studien gehen für die nächsten Jahre von mindestens 1’500 neuen Mitarbeitenden aus, die in der Nähe ihres Arbeitsplatzes eine Wohnung brauchen. Diesen Impuls will der Kanton nutzen und im oberen Reusstal und im Urserental attraktiven Wohnraum schaffen. Mit Hilfe der Hochschule Luzern wurde ein Projekt zur Wohnraumförderung initiiert. Weil es Modellcharakter haben und anderen Regionen mit ähnlichen Problemen als Vorbild dienen soll, wird das Projekt vom Bund finanziell unterstützt.
Wohnungen allein reichen nicht
In einem ersten Schritt haben Experten der Hochschule Luzern das Angebot und den Bedarf an Wohnraum sowie die Attraktivität der Dörfer analysiert. «Wir waren überrascht zu sehen, dass es beispielsweise frühmorgens und spätabends gar keine Busse gibt, welche die Resortmitarbeitenden nach Andermatt und wieder zurückbringen», sagt Projektleiter und Immobilienexperte Markus Schmidiger vom Departement Wirtschaft der Hochschule Luzern. «In einem zweiten Schritt coachten wir die Verantwortlichen dabei, konkrete Massnahmen umzusetzen.»
Wir haben mit der Hochschule Luzern diverse Instrumente erarbeitet, die Gemeinden und Private bereits nutzen.
In Zusammenarbeit mit weiteren Fachpersonen sind 2016 und 2017 in neun Handlungsfeldern – von Mobilität über Dorfentwicklung bis zu Hausrenovationen – verschiedene Teilprojekte realisiert worden. Ziel ist, nicht nur genügend Wohnraum zu schaffen, sondern auch die Infrastruktur zu verbessern und die Dorfkerne ästhetisch aufzuwerten. «Damit die Leute bleiben, muss der Standort als Ganzes attraktiv sein», so Schmidiger.
Vielversprechende Hausanalyse
Oft gibt es zwar genügend Wohnraum, aber dieser wird nicht genutzt oder ist sanierungsbedürftig. Dies ist insbesondere bei Zweitwohnungen der Fall. Ein vielversprechendes Instrument, das neu eingeführt wurde, ist die sogenannte Hausanalyse. Diese liefert den Besitzern von Altbauten eine professionelle Einschätzung, was saniert werden müsste, wie teuer das käme und ob eine künftige Vermietung rentieren würde. «Für Hausbesitzer, die sich selber zu wenig mit dem Thema auskennen oder denen ein Umbau zu kompliziert scheint, ist das sehr hilfreich», sagt Schmidiger.
Nach einer Pilotphase mit fünf Urner Hauseigentümern sind zwei bereits am Umbauen. Nun lanciert der Kanton flächendeckend Analysen und zahlt jeweils die Hälfte der Kosten von 6’000 Franken. «Die Hausanalyse ist am weitesten in der Umsetzung, aber wir haben im Projekt mit der Hochschule Luzern weitere konkrete Instrumente erarbeitet, die Gemeinden und Privatpersonen nun nutzen können», zeigt sich der Urner Kantonsplaner Marco Achermann zufrieden.
Mehr Mobilitätsangebote
Inzwischen hat der Kanton auch erreicht, dass zusätzliche Busse nach Andermatt fahren. Zudem wurden in den Gemeinden Ideen für alternative Mobilitätsangebote angestossen – etwa WhatsApp-Gruppen für Mitfahrgelegenheiten oder Bustransporte durch Freiwillige. Als hilfreich und wichtig erachtet der Kantonsplaner auch den Prozess der Dorfentwicklung, der in den beiden Gemeinden Sisikon und Hospental angestossen wurde. An dessen Anfang stand ein Workshop, den Thomas Steiner vom Departement Soziale Arbeit der Hochschule Luzern moderierte.
Steiner fragte die Bevölkerung nach ihren Bedürfnissen und Ideen und sorgte dafür, dass sich alle an einen Tisch setzten. «Unsere Rolle klingt banal, aber es ist wichtig, dass jemand von aussen kommt und weiss, wie man solche Prozesse moderiert.» Oft sei es das erste Mal, dass der Gemeinderat gemeinsam mit der Bevölkerung nach Lösungen suche. «Die Gemeinderäte mit ihren kleinen Milizpensen können die Dorfentwicklung nicht im Alleingang stemmen.»
Was die Menschen vermissen
«Unsere Arbeit ist ein erster Schritt für Veränderungen, die Zeit brauchen», sagt Steiner. In Sisikon beispielsweise werden Ideen weiterverfolgt, das Seeufer, den Wald und den Bootshafen als Naherholungsgebiete aufzuwerten. Etwas weiter ist die Gemeinde Realp, die Thomas Steiner im Rahmen eines ähnlichen Projekts begleitet hat. Sie will ihr ehemaliges Schulhaus sanieren und dort ein sogenanntes Dienstleistungszentrum einrichten: einen Laden, der auch lokale landwirtschaftliche Produkte vermarktet, Café und Dorfwohnzimmer ist. «Es soll ein sozialer Dreh- und Angelpunkt werden», sagt Thomas Steiner. «Das ist es, was mit der Schliessung des Dorfladens wegfällt und was die Leute in den Dörfern vermissen.» Und Markus Schmidiger ergänzt: «Das vielversprechendste Mittel im Kampf gegen die Abwanderung ist, wenn die Einwohnerinnen und Einwohner selber kreative Lösungen suchen und sich zu engagieren beginnen.»
Weitere Informationen zum Projekt: www.ur.ch/wohnraumfoerderung
Autorin: Barbara Spycher
Foto: Angel Sanchez