1918 wurde die «sozial-caritative Frauenschule» in Luzern gegründet. Ihre Aufgabe war es, Töchter der gehobenen Gesellschaft für karitative Tätigkeiten auszubilden. Was ist von den Wurzeln heute noch zu spüren?
Das Ziel der Ausbildung und der humanitäre Gedanke, Menschen zu unterstützen, die nicht auf der Sonnseite des Lebens stehen, sind gleich geblieben. Verändert hat sich neben der Art der Wissensvermittlung der gesellschaftliche Stellenwert der Sozialen Arbeit: von der karitativen Freiwilligenarbeit zu einem bezahlten Fachberuf. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind heute überall dort im Einsatz, wo Menschen zusammenleben: in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, in Sozialämtern, in der Quartierarbeit, in der Bewährungshilfe oder auch in Asylunterkünften.
Was prägte die Gründungszeit?
Die Gründung unserer Institution fiel in die Zeit des Ersten Weltkriegs, der auch der Schweiz grosse Armut und Entbehrungen brachte. Schon damals war klar, Armut kann man nicht mit Almosen bekämpfen, sondern es braucht verknüpftes Fachwissen aus Soziologie, Wirtschaft, Recht, Psychologie usw. Diesen interdisziplinären Ansatz verfolgen wir bis heute.
Welche Probleme beschäftigen die Soziale Arbeit heute?
Nach wie vor Armut, Arbeitslosigkeit, Sucht und Migration. Neuere Themen sind Prävention, Integration, Kindes- und Erwachsenenschutz oder Quartiersarbeit. Oder auch Gewalt, Cyber-Mobbing und Sexting, also Kommunikation über sexuelle Themen per Handy.
An der Frauenschule wurden Männer erst 1960 zugelassen. Noch heute ist die Disziplin stark frauenlastig. Woran liegt das?
Da Soziale Arbeit als karitative Arbeit lange nur wenig bis gar nicht entlohnt wurde, kam sie für Männer, die eine Familie ernähren mussten, nur schon deshalb nicht in Frage. Auch fehlte es an der sozialen Anerkennung. Ich selbst fühlte mich als Mann noch in den 1980er-Jahren als Exot in der Branche. Selbst heute ist nur etwa ein Viertel der Studierenden männlich. Hier haben wir Entwicklungsbedarf: Wir müssen noch mehr aufzeigen, wie viele Möglichkeiten der spannende und zukunftsträchtige Beruf bietet.
Wie kamen Sie zu Ihrem Beruf?
Das hängt stark mit meiner Biografie zusammen, auch wenn mir das bei meiner Berufswahl noch nicht bewusst war. Ich bin in einer armutsbetroffenen Familie aufgewachsen. Mein Vater, der als junger Mann von Österreich in die Schweiz eingewandert war, blieb trotz seiner Fähigkeiten zeitlebens Hilfsarbeiter und – wie man heute sagt – «Working Poor». Ich erlebte die Nachteile und Zuschreibungen, die damit einhergehen. Umso wichtiger war es für mich, dass alle Menschen an der Gesellschaft teilnehmen können. Als Jugendlicher habe ich mich dann entschieden, Sozialarbeiter zu werden – ohne je einen getroffen zu haben. Um die Ausbildung zu finanzieren, arbeitete ich erst im kaufmännischen Bereich und dann als Programmierer. Mit 24 Jahren konnte ich mir die Teilzeitausbildung finanzieren. Seither bin ich Sozialarbeiter aus Leidenschaft und Überzeugung.
Was war Ihr bewegendstes Erlebnis?
Die von Pfarrer Ernst Sieber initiierte «Obdachlosen-Landsgemeinde» auf dem Rütli, die ich 1991 anlässlich der 700-Jahr- Feier der Schweiz mitorganisiert habe. Die obdachlosen Menschen durften im Herzen der Schweiz Teil der offiziellen Feier werden.
Eine Klientin, die Sie beeindruckt hat?
Eine etwa 40-jährige Frau, die lange auf Sozialhilfe angewiesen und obdachlos war. Nach dem Tod ihrer reichen Tante wurde sie von heute auf morgen zur mehrfachen Millionärin. Sie hat die bezogene Sozialhilfe sofort zurückbezahlt, sich bei mir bedankt und verabschiedet. Ich habe im positiven Sinne nie mehr von ihr gehört.
Sie entsprechen nicht dem Klischee des typischen Sozialarbeiters, der Wollpullover und Birkenstocksandalen trägt. Ist da heute noch etwas dran?
Das Berufsfeld und das Äussere der Fachkräfte hat sich stark verändert. Wollpullover und Birkenstock sind zwar noch anzutreffen – und auch wieder modern. Aber das Sozialarbeiter-Klischee aus den 1960er bis 1980er-Jahren stimmt schon längst nicht mehr.
Wie wirken sich die Veränderungen des Berufsfeldes auf den Unterricht aus?
Das Studium in Sozialer Arbeit ist vielfältiger und anspruchsvoller geworden. Die Studierenden nehmen heute noch aktiver am Unterricht teil und wir versuchen, sowohl ihre Selbst- und Sozialkompetenz wie auch die Fach- und Methodenkompetenz zu stärken. Zentral ist, dass sie nicht nur von den Dozierenden, sondern auch von ihren Mitstudierenden und Fachkräften in der Praxis lernen und profitieren und sich schon früh ein breites und wertvolles Netzwerk aufbauen können.
Und der berühmte «Stuhlkreis»?
Der Stuhlkreis hat nach wie vor seine Berechtigung: Im Kreis gelingen Austausch und Dialog in der Gruppe oft besser. Und er fördert das Zugehörigkeitsgefühl. Am Klischee, dass in der Sozialen Arbeit sehr viel geredet wird, ist etwas dran, aber ist berufsbedingt auch sinnvoll. Bei der Arbeit mit Menschen ist Reden, aber vor allem auch Zuhören und Reflektieren von zentraler Bedeutung. Diese Fähigkeiten gilt es auch im Studium aufzubauen. Wer sich damit schwer tut, hat später wenig Chancen im Beruf als Sozialarbeiter.
Dieses Problem hat Vladimir Petkovic wohl nicht. Der Trainier der Fussball-Nationalmannschaft ist ausgebildeter Sozialarbeiter. Hilft ihm das in seinem Job?
Ich bin überzeugt, dass ihm seine Ausbildung als Sozialarbeiter sehr zugutekommt. Er hat gelernt, auf Menschen zu- und einzugehen, aber auch, Dynamiken in der Gruppe einzuschätzen und zielführend zu nutzen. Sein Migrationshintergrund und damit die Erfahrung, sich im Feld verschiedener Kulturen zu bewegen, ist zudem hilfreich und verschafft ihm auch auf internationalem Parkett Respekt und Glaubwürdigkeit.
Der Sozialbereich ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Kritiker sprechen von einer «Sozialindustrie». Braucht es wirklich so viele Sozialarbeiter?
Dass sich die Branche sozusagen selbst beschäftigt, was der Begriff «Sozialindustrie» impliziert, wäre nur schon berufsethisch nicht vertretbar. Tatsächlich führen die zunehmende Komplexität der Gesellschaft und die Veränderung der Altersstruktur zu immer neuen Phänomenen, welche in der Sozialen Arbeit zu einer weiteren Differenzierung des Berufsfeldes führen und damit auch mehr Fachkräfte erfordern.
Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB, der Asylbereich – einige Arbeitsfelder sind politisch aufgeladen und die Mitarbeitenden sind auch Anfeindungen ausgesetzt. Wie bereiten Sie Ihre Studierenden darauf vor?
Wir bewegen uns in einem politischen Umfeld. Studierende müssen früh lernen, eine professionelle Distanz zu wahren und trotz der Ernsthaftigkeit vieler Themen die Freude und Lust am Beruf zu erhalten. Sachliche Kritik gilt es ernst zu nehmen, unberechtigte Kritik oder gar Anfeindungen gilt es entschieden zurückzuweisen. In festgefahrenen Situationen kann Humor manchmal helfen: Zwei unserer Studentinnen haben kürzlich in einer Abschlussarbeit aufgezeigt, wie Humor in der Sozialen Arbeit eingesetzt werden kann.
Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Werden Sozialarbeiter in den nächsten 20 Jahren durch Maschinen ersetzt sein?
Administrative und repetitive Arbeit, wie die Antragsstellung oder das Berechnen und Abwickeln von Sozialleistungen, werden wohl durch Informatikprogramme ersetzt werden. Es ist auch nicht auszuschliessen, dass Hilfe suchende Menschen in Zukunft in ihrer Muttersprache von einem humanoiden Roboter begrüsst und zur zuständigen Fachperson geführt werden. Die Fachkräfte in der Sozialen Arbeit werden sich so auf ihre Kernkompetenzen, die persönliche Beratung und Begleitung von Menschen und Vernetzung mit Partnern und Institutionen, konzentrieren können.
Interview: Mirjam Aregger
100 Jahre Departement Soziale Arbeit
Zum Anlass des 100-Jahr-Jubiläums macht die Hochschule die Bedeutung des gemeinnützigen Engagements in der Gesellschaft und den Beitrag der Sozialen Arbeit zur Entwicklung des Gemeinwesens sichtbar.
Teil davon sind rund 100 Aktionen, welche die Studierenden von Mitte Februar bis Anfang März 2018 durchführen: Sie stellen zum Beispiel mit minderjährigen Asylsuchenden im Kanton Uri Kostüme und weitere Utensilien her, um gemeinsam an einem Fasnachtsumzug teilzunehmen. Eine weitere Aktion richtet sich an Zugreisende: In einem «Kontaktwagen » können sich Interessierte treffen, um mit Mitreisenden ins Gespräch zu kommen, statt anonym unterwegs zu sein. Und mit der Aktion «Sehbehinderung erleben» stellen Studierende die weissen Leitlinien am Bahnhof Luzern in den Fokus. Viele Menschen wissen nicht, wie wichtig es ist, diese Linien freizuhalten. Mittels Dunkelbrille und Stock können sie dies vor Ort selbst erfahren.
Die Jubiläumspublikation «Soziale Arbeit bewegt, stützt, begleitet» beleuchtet auf rund 300 Seiten die Schwerpunkte und Themenfelder des Departements. Neben aktuellen Trends beinhaltet sie historische Rückblenden mit reichlich Bildmaterial. Das Buch ist für 39 Franken im interact Verlag erhältlich.
In den sechs Trägerkantonen der Hochschule Luzern fanden zudem von April bis Juni 2018 Veranstaltungen statt.
Weitere Informationen unter www.hslu.ch/100jahre-sozialearbeit