Menschen mit Alkoholproblemen, Eltern von autistischen Kindern oder Personen mit einer Erdnussallergie: Etwa 43’000 Menschen treffen sich in der Schweiz einmal pro Monat in einer Selbsthilfegruppe, Tendenz steigend. «Die Anzahl von Selbsthilfegruppen hat sich in den letzten 15 Jahren von 1’280 auf 2’560 verdoppelt», sagt Soziologe Jürgen Stremlow vom Departement Soziale Arbeit der Hochschule Luzern. Zusammen mit Lucia M. Lanfranconi, ebenfalls Soziologin am Departement, hat er mit der Universität Lausanne im Auftrag der Stiftung Selbsthilfe Schweiz die Situation der Selbsthilfegruppen und ihren Nutzen untersucht.
Armut, Einsamkeit und Hochsensibiliät als neue Themen
Die Studie «Gemeinschaftliche Selbsthilfe in der Schweiz» zeigt: Es gibt heute Gruppen zu 280 verschiedenen Themen, davon betreffen drei Viertel den Bereich Gesundheit und ein Viertel soziale Themen. «In den letzten Jahren ist die Zahl der Selbsthilfegruppen zu sozialen Fragen besonders stark gestiegen», sagt Lucia M. Lanfranconi. Dazu gehören Armut, Einsamkeit oder die sogenannte Hochsensibilität. Aber auch psychische Krankheiten wie bipolare Störungen, Borderline oder Narzissmus werden vermehrt thematisiert. «Selbsthilfegruppen greifen häufig als erste neue Themen oder Probleme in der Bevölkerung auf, die von der Fachwelt erst in Ansätzen bearbeitet werden wie zum Beispiel das Thema Elektrosensibilität», so Lanfranconi. Es gibt aber auch Gruppen, die in den letzten Jahren verschwunden sind: zu Amalgamschäden, Kinderlähmung, krankhafter Eifersucht oder für gross gewachsene Menschen. «Wir nehmen an, dass diese Themen in der Bevölkerung entweder nicht mehr präsent sind oder die Probleme anderweitig angegangen werden», sagt Lanfranconi.
Stärkere Zusammenarbeit mit Spitälern und Kliniken
Selbsthilfegruppen sind heute eine wichtige Ergänzung im Sozial- und Gesundheitswesen. «Zentral für die Zukunft ist eine noch engere Zusammenarbeit mit Spitälern, psychiatrischen Kliniken und anderen Institutionen», ist Jürgen Stremlow überzeugt. Zum Beispiel nach der Diagnose Prostatakrebs: Die betroffene Person sollte noch im Spital auf Selbsthilfeangebote aufmerksam gemacht werden, die helfen, im Alltag mit der Krankheit umzugehen oder krankheitsbedingte Belastungen möglichst zu reduzieren.
Kostengünstige Ergänzung im Gesundheitswesen
Trotz des erwiesenen Nutzens ist die Selbsthilfe heute im Präventions- und Gesundheitssystem weder gesetzlich verankert noch nachhaltig finanziert. Eine entsprechende kantonale Verankerung kennt bisher nur Basel-Stadt. Die meisten Gruppen finanzieren sich aus Mitgliederbeiträgen und Spendengeldern. Als Modell könnte Deutschland dienen: Dort sind die Krankenkassen verpflichtet, pro versicherte Person gut 1 Euro zur Förderung der gemeinschaftlichen Selbsthilfe zur Verfügung zu stellen. «Selbsthilfe unterstützt den Patienten, bestimmten Krankheiten besser vorzubeugen oder bewusster damit umzugehen. Dies könnte letztlich auch das immer teurere Gesundheitswesen entlasten», so Jürgen Stremlow.
Autorin: Mirjam Aregger
Bild: Thinkstock
Grafik: Studie Gemeinschaftliche Selbsthilfe in der Schweiz; Bern: Hogrefe, Aug 2017