Biografie: Dieses unbändige Gefühl der Freiheit
In den letzten drei Jahren wurden an der Hochschule Luzern die künstlerische Karriere und die politischen Aktivitäten von Irène Schweizer aufgearbeitet und in der von der Musikerin autorisierten Biografie «Dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik» (Broeckingverlag) veröffentlicht. Autor Christian Broecking befragte die Künstlerin selbst, aber auch mehr als 60 Weggefährten: Musiker wie George Lewis, Louis Moholo oder Carla Bley bis hin zur Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch. Das Projekt wurde mitfinanziert vom Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI).
Weitere Informationen und Konzertaufnahmen:
www.hslu.ch/irene-schweizer
Frau Schweizer, ich habe soeben Ihre Biografie gelesen. Sie haben während Konzerten sogar Klaviere zertrümmert?!
Als es noch keine Verstärker gab, war man als Pianistin oder Pianist auf der Bühne manchmal etwas verloren und musste sehr laut spielen. Deshalb habe ich gelegentlich mit den Ellbogen gespielt ...
... und mussten am nächsten Tag einen Verband tragen!
In einigen deutschen Clubs waren die Instrumente wirklich grausam «zwäg», auf denen hätte man gar nicht mehr spielen dürfen.
Also war neben dem Zwang zur Lautstärke auch etwas Wut dabei, als Sie den Instrumenten regelrecht die Hämmer rausgehauen haben?
Beides natürlich.
Heute sind Sie sanfter, aber Sie behandeln das Klavier nach wie vor oft wie ein Schlaginstrument.
Für mich ist das naheliegend. Ich bin ja auch Schlagzeugerin, mit 14 habe ich im Gasthof meiner Eltern in Schaffhausen damit angefangen. Vor allem bei Solokonzerten verwende ich auch Mallets – weiche Schlägel – und Schlagzeugstöcke, um die Saiten anzuschlagen. Das kann ich jedoch nur bei einem Flügel machen, bei gewöhnlichen Klavieren geht das nicht.
Zur Person
Irène Schweizer hat immer wieder Neues gewagt. Mit 12 Jahren begann sie – grösstenteils autodidaktisch –, Klavier zu spielen, mit 16 trat sie bereits mit ihrer Dixieland- Band «The Crazy Stokers» auf. Sie hat unter anderem den europäischen Free Jazz mitbegründet und bekannte Musikfestivals wie «taktlos» und «unerhört!» ins Leben gerufen. Zudem betreibt sie mit «Intakt» ein eigenes Musiklabel und beteiligt sich an der Werkstatt für improvisierte Musik (WIM) in Zürich.
In einigen deutschen Clubs waren die Instrumente wirklich grausam «zwäg».
Durch das Schlagzeug haben Sie auch eine Verbindung zum Luzerner Land.
Ja. Von 1967 bis 1974 arbeitete ich in Nottwil als Sekretärin von Pierre Favre bei der Firma Paiste, die Schlagzeugbecken produziert. Ich habe den Gebrüdern Paiste viel zu verdanken. Sie wussten, dass Pierre und ich auch Musiker sind. Wenn wir ins Ausland auf Tournee gehen wollten, legten sie uns nie Steine in den Weg. Sie stellten uns sogar einen Raum zur Verfügung, den wir nach Feierabend für Proben nutzen konnten.
Mit dem Schlagzeuger Pierre Favre treten Sie seit Jahrzehnten auf.
Mittlerweile sind es bald 50 Jahre! Für mich ist Pierre ein Melodiker am Schlagzeug, und ich gelte als Pianistin mit perkussivem Anschlag. Deshalb passen wir wohl so gut zusammen.
Ein weiterer Fixpunkt im Luzernischen ist Willisau. Wie oft sind Sie dort aufgetreten?
Insgesamt waren es etwa 25 Mal. Am Jazzfestival natürlich, und bevor es dieses gab, spielte ich ab und zu im Restaurant «Mohren».
Gibt es Konzerte, die Ihnen speziell in Erinnerung geblieben sind?
Schon ein paar. Darunter Auftritte mit ausländischen Musikern wie beispielsweise mit dem Trompeter Don Cherry, den Saxophonisten John Tchicai und Fred Anderson, dem Posaunisten George Lewis. Und natürlich ist mir mein Solokonzert 1976 in guter Erinnerung. Niklaus Troxler hat mich ermuntert, endlich auch mal solo aufzutreten. Ich habe mich erst gesträubt und war nicht sicher, ob ich schon bereit bin.
Ihr Konzert wurde zu einem riesigen Erfolg. Niklaus Troxler hat sie quasi zum Glück gezwungen.
Stimmt. Knox hat mich immer unterstützt. Ich habe ihm sehr viel zu verdanken.
Woher nahmen Sie den Mut, all diese Dinge anzupacken – gerade auch als sehr junge Frau?
Ich habe keine Ahnung. Mich hat einfach diese Musik gepackt. Deshalb habe ich auch überall mitgearbeitet, wo es in diesem Bereich etwas Neues gegeben hat.
Sie haben sich auch jahrelang sehr aktiv in der Frauenbewegung engagiert.
1975 hat mich eine Bekannte zum ersten Mal ins Frauenzentrum beim Bahnhof Zürich-Enge mitgenommen. Ich bin lesbisch. Das Frauenzentrum war damals einer der wenigen Orte, an denen man Bekanntschaften schliessen konnte. Dort habe ich meine Freundin kennengelernt. Im Frauenzentrum bekam ich rasch das Gefühl, mich auch politisch engagieren zu wollen. Obwohl 1971 das Frauenstimmrecht eingeführt worden war, waren die Frauen alles andere als gleichberechtigt. Homosexuelle wurden noch extremer benachteiligt. So habe ich unter anderem die Zeitung «Lesbenfront» ins Reine getippt, als gelernte Sekretärin fiel mir das leicht.
Und welche Haltung herrschte damals im Musikbusiness gegenüber Frauen?
Jazz war eine reine Männerdomäne. Es gab nur wenige Musikerinnen, vor allem Instrumentalistinnen waren rar gesät, Sängerinnen gab es schon eher. Sie wurden von den Musikern aber oft ziemlich respektlos behandelt. Da ich Pianistin und Schlagzeugerin war und auf hohem Niveau spielte, waren die Männer gezwungen, mich zu respektieren.
Seither hat sich die Gesellschaft stark verändert, die Lebensmodelle sind vielfältiger geworden. Wie beurteilen Sie die heutige Situation für junge Frauen und Homosexuelle?
Angesichts gewisser populistischer Tendenzen habe ich manchmal ein komisches Gefühl. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Forderung «Frauen zurück an den Herd» irgendwann wieder mehr Raum einnimmt. Auch für Homosexuelle kann die Situation wieder kippen. In vielen Ländern Europas werden sie nach wie vor massiv diskriminiert.
Schlimm ist, wenn das, was man spielt, langweilig ist, oder wenn einem nichts in den Sinn kommt.
In der Antiapartheidbewegung waren Sie ebenfalls aktiv und haben unter anderem mitsamt Klavier an Protestkundgebungen teilgenommen. Was war der Auslöser?
Ich habe in den 1960er-Jahren viele schwarze südafrikanische Musiker kennengelernt. Einige davon lebten in der Schweiz im Exil und verkehrten wie ich im Zürcher Jazz-Club Africana.
Neuland betreten Sie auch bei jedem Konzert, wenn Sie improvisieren. Haben Sie keine Angst vor falschen Tönen?
Falsche Töne gibt es beim Improvisieren eigentlich nicht, ausser man verfehlt ein festgelegtes Thema. Schlimm ist, wenn das, was man spielt, langweilig ist, oder wenn einem nichts in den Sinn kommt. Mein grosses Vorbild ist der Pianist Thelonious Monk. Er hat 73 Themen komponiert. Ich bin immer noch daran, diese Stücke zu lernen – das ist die beste Übung. Hier passiert es mir immer noch, dass ich mal danebengreife.
Was spüren Sie, wenn Sie improvisieren?
Das kann ich wirklich nicht in Worte fassen. Darum ist es ja Musik! Wichtig ist einfach, dass man sich gut kennt und sich vertraut, wenn man mit anderen Musikerinnen und Musikern spielt. Und man muss etwas zu sagen haben.
Wann treten Sie wieder einmal auf?
Am 19. August spiele ich mit Pierre Favre im Zentrum Chilematt in Steinhausen, und am 31. August trete ich solo im Kunst- museum Luzern auf. Ich mache Musik zu Bildern einer Retrospektive von Sonja Sekula, einer leider bereits verstorbenen, faszinierenden Malerin. Eine meiner Solo-CDs trägt den Namen eines Bildes von ihr: «Many and one Direction».
Wie lange üben Sie für ein Konzert mit Pierre Favre?
Wir treffen uns jeweils einen Nachmittag lang, um zusammen zu spielen. Aber wir machen kein Programm und wissen im Voraus nicht, was wir spielen werden.
Sie sind international sehr bekannt. Und doch sind Sie nicht reich geworden.
Stimmt. Ich habe immer bescheiden gelebt und mich wie viele andere Musiker meiner Generation gegen Kinder entschieden. Finanziell haben mir auch die verschiedenen Auszeichnungen geholfen. In der Schweiz sind die Zustände im Moment für junge Musikerinnen und Musiker noch relativ gut. Anders ist die Situation in Deutschland. Dort müssen Musiker sogar dafür zahlen, dass sie auftreten dürfen: Pay to Play! So etwas sollte verboten sein.
Interview: Mirella Wepf
Bild: Francesca Pfeffer