Angehörige übernehmen in der Schweiz einen wichtigen Beitrag bei der Pflege und Betreuung kranker Familienmitglieder. Gemäss einem Bericht des Bundesrates kümmern sich rund 330’000 Personen im Erwerbsalter regelmässig um ihre Lebenspartner, Eltern, Kinder und Verwandten, die krank, invalide oder betagt sind. «Die Unterstützung der Angehörigen wird künftig noch wichtiger, weil aufgrund des demografischen Wandels immer mehr ältere Leute betreut und gepflegt werden müssen. Der steigende Bedarf kann nicht nur mit professioneller und institutioneller Pflege gedeckt werden», sagt Betriebsökonom Christoph Buerkli von der Hochschule Luzern.
Firmen schätzen ihre Betroffenheit als gering ein
Das hat Konsequenzen für die Wirtschaft: Die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege, die häufig auch mit «work & care» umschrieben wird, gewinnt an Bedeutung. Ein Forschungsteam der Departemente Wirtschaft und Soziale Arbeit der Hochschule Luzern untersuchte im Rahmen des Interdisziplinären Schwerpunkts «Gesellschaftliche Sicherheit und Sozialversicherungen», wie Zentralschweizer Betriebe damit umgehen. Befragt wurden zwölf HR-Verantwortliche und ein CEO, deren Unternehmen insgesamt 24’000 Personen beschäftigen.
«Es gibt Studien, die zum Schluss kommen, dass mindestens zwölf Prozent der momentan Beschäftigten in der Schweiz Angehörige betreuen oder pflegen. Trotzdem schätzen alle befragten Firmen ihre Betroffenheit viel geringer ein», sagt Studienleiter Buerkli. Die Unternehmen seien vor allem mit Einzelfällen konfrontiert, die sie individuell lösen. «Viele Betriebe behandeln die Pflege von Familienmitgliedern als Ausnahmesituation, in der das Arbeitsverhältnis unter erschwerten Bedingungen aufrechterhalten wird.»
Allgemein sei wenig konkretes Wissen zum Thema vorhanden, und es gebe kaum institutionalisierte Regelungen. «Die Firmen stellen sich noch zu selten die Frage, was ihr Beitrag in einer zunehmend überalterten Gesellschaft ist, damit Mitarbeitende Arbeit und Betreuung vereinbaren können.»
Im Interesse des Arbeitgebers
Die Umfrage zeigte aber auch, dass die Thematik in gewissen Betrieben auf der Prioritätenliste nach oben klettert, so bei den Genossenschaften der Migros. Vorreiterin ist Basel: Migros-Mitarbeitende können unter anderem kostenlos einen externen Service beiziehen, der sie bei der Pflege von Familienmitgliedern berät und hilft, Dienstleistungen wie die Spitex zu organisieren.
«Es ist für Erwerbstätige schwierig, alles unter einen Hut zu bringen», sagt Eva Scheidegger, Leiterin Sozialberatung der Genossenschaft Migros Basel. Viele würden sich zudem in einer Sandwichsituation wiederfinden: Einerseits bräuchten die noch minderjährigen Kinder Aufmerksamkeit, andererseits seien die Eltern pflegebedürftig. «Es sollte im Interesse aller Arbeitgeber sein, Mitarbeitende zu unterstützen. Damit diese konzentriert ihre Arbeit ausführen können.»
Buerkli und sein Forschungsteam empfehlen Firmen deshalb, eine unterstützende Unternehmenskultur zu etablieren, indem sie das Personal für «work & care» sensibilisieren, Anlaufstellen definieren und Absenzen für die Pflege von Angehörigen explizit erfassen, um zu eruieren, wie viele Mitarbeitende wie stark betroffen sind. Der Studienleiter plädiert zudem für mehr Mut – Stichworte sind unter anderem Jobsharing in Kaderpositionen und flexible Arbeitszeitmodelle. «Die Attraktivität der Arbeitgeber hängt zunehmend davon ab, ob und inwiefern es Angestellten gelingt, Arbeitstätigkeit und Angehörigenpflege zu vereinbaren. Das sollte nicht zuletzt in Branchen mit Fachkräftemangel ein schlagkräftiges Argument sein.»
Autorin: Yvonne Anliker