Die Zahl der Menschen, die sich mit der Kirche verbunden fühlen, nimmt ab.
Die katholische Kirche wächst weltweit! Das Phänomen, das Sie beschreiben, trit nur für den Westen zu. Aber hier nimmt die Bindungswilligkeit allgemein ab. Ob in Beziehungen, Vereinen oder in der Freiwilligenarbeit – man tut sich schwer mit Verpflichtungen. «Events» funktionieren jedoch noch, auch in der Kirche: Hochzeiten, Beerdigungen, Weltjugendtage.
Wie wirkt sich das auf Einsiedeln aus?
Wir können uns nicht beklagen, unsere Kirche ist immer voll. Viele Leute kommen zum Staunen von weit her und besuchen die Schwarze Madonna. Übrigens nicht nur Christen.
Sie nahmen letzten Herbst, als die Asylzentren an ihre Grenzen stiessen, 25 Eritreer auf. Was bedeutete das für den Klosteralltag?
Am ersten Tag nahm ich sie mit in die Kirche, Christen wie Muslime, und erklärte, dass Maria für beide Religionen wichtig ist. Ich wollte ihnen die «Hausherrin» zeigen, die sie besuchen können, wenn sie sich nicht daheim fühlen. Ich habe mich dann dafür starkgemacht, dass die Eritreer arbeiten dürfen. Wir haben ihnen einfache Arbeiten im Stall, in der Holzverarbeitung und im Garten gegeben. Berührt hat mich, wie sich unsere Gäste und unsere Schüler begegneten: Es gab einen Fussballmatch, Gesprächsrunden und ein Kunstprojekt, Freundschaften entstanden.
Welche Reaktionen gab es aus dem Umfeld?
Wir haben die Angst in der Bevölkerung gespürt. Man fragte: «Sind die dann alle im Dorf?» Einige teilten den Eritreern gleich bei der Ankunft mit, dass sie nicht nur willkommen sind – aber das fand ich gut, denn so merkten sie, dass sie nicht im Paradies auf Erden gelandet sind. Mit der Zeit hat sich das gelegt, weil es keine Probleme gab.
Zurzeit sind so viele Menschen auf der Flucht wie zuletzt im Zweiten Weltkrieg. Tun wir genug, um zu helfen?
Die Schweiz und die Kirche engagieren sich auf politischer Ebene stark für Flüchtlinge. Wir müssen sie auch weiterhin menschenwürdig behandeln und ihnen Schutz bieten. Wir können diese Leute nicht in den Tod schicken. Aber uns muss bewusst sein: Die meisten kommen gar nicht hier in Europa an, sondern stranden in ihren Nachbarländern. Das Wichtigste ist, dass die Konflikte vor Ort angegangen werden. Wir können aber niemandem verbieten, zu flüchten, wenn er zu Hause nicht mehr leben kann. Ich möchte auch nicht in Syrien leben.
Islamistische Anschläge und Übergriffe auf Christen verunsichern den Westen. Wie kann man anderen Religionen gegenüber unvoreingenommen bleiben?
Je mehr wir bei uns sind, desto besser vertragen wir andere. Die meisten Muslime sind keine Fundamentalisten! Oft werden junge Leute extrem, die keine Zukunft sehen. Man muss ihnen Bildung und Perspektive ermöglichen. Zudem muss der Dialog weitergehen. Freundschaft entsteht aber nicht nur über den Intellekt, sondern auch über ein Gefühl. Da kann Religion viel bewirken.
Können Sie ein Beispiel nennen?
In Einsiedeln entstand ein regelrechter Hype, der Schwarzen Madonna neue Kleider zu schenken, auch unter Muslimen und Hindus. Diese einfache Geste hat eine starke integrative Kraft.
Abt Urban Federer, vor anderthalb Jahren wählten Ihre Mitbrüder Sie zum Abt. Hat Sie das Freunde gekostet?
Eher der Klostereintritt. Damals haben sich einige Leute von mir distanziert, weil sie sich unter diesem Weg nichts vorstellen konnten. Aber ich habe auch Freunde gewonnen, weil ich keine Schwierigkeiten habe, Kontakte herzustellen – eine wichtige Qualität für einen Abt.
Sie twittern und sind bei Facebook. Das erwartet man nicht unbedingt von einem Abt ...
Social Media nutze ich schon lange. Twitter zwingt mich, Dinge auf den Punkt zu bringen. Auf Facebook teile ich vor allem Bilder. Klöster waren übrigens schon immer Vorreiter in der Kommunikation: Sie haben die ersten Datenträger erfunden.
Welche Rolle spielen die «modernen Medien» in Ihrem Alltag?
Ich bin nicht den ganzen Tag online. Wenn man einen natürlichen Tagesrhythmus hat, wird man immer wieder aus dem Netz gerissen: durch das Gebetsleben, den Job, die Schulstunde. Es braucht einen vernünftigen Umgang mit den modernen Medien. Ich würde zum Beispiel das Handy nie mit in die Kirche nehmen.
Auf Facebook hat man schnell ein paar hundert «Freunde». Aber kommen Sie den Menschen so wirklich näher?
Man darf nicht zu viel von Social Media erwarten. Es ist einfach ein weiteres Feld, um seine Gedanken weiterzugeben. Die Predigten, die wir auf unsere Website hochladen, kann ich als Link teilen. So erreiche ich auch Leute, die nicht in der Kirche waren. Ich habe auch schon Tweetups organisiert, also Treffen mit Leuten, die ich auf Twitter kennenlernte. Das mache ich ab und an, wenn ich ein Thema persönlich besprechen will.
Was bedeutet Freundschaft für Sie?
Damit ich Mensch sein kann, brauche ich den Austausch mit anderen Menschen – und zwar nicht nur den professionellen. Freundschaft ist, wenn man sich trotz Kritik angenommen und gemocht fühlt. Freundschaft hat viel mit Vertrauen zu tun, aber auch mit Intellekt und Auseinandersetzung. Und mit einer emotionalen Ebene. Ich finde Freundschaft in Gott. Natürlich sitzt er nicht vor mir wie ein Kollege – aber im Gebet spüre ich ein Gegenüber, mit dem ich mich suchend, fragend und kritisch auseinandersetze. Und zu ihm habe ich auch eine emotionale Bindung.
Mich befremdet es, wenn Politiker stark auf die Abschottung unseres Landes setzen. Haben wir nur noch Angst oder auch eine Vision?
Und doch ist da auch ein Bedürfnis nach Sicherheit …
Wir haben ein Anrecht auf Sicherheit und brauchen ein Netz, das darauf achtet, dass Fundamentalismus nicht wuchern kann. Man muss genau hinschauen, jeder Einzelne – hier muss die Bevölkerung investieren.
Gibt es Situationen, in denen Sie sich in der heutigen Welt fremd fühlen?
Ich suche gern das persönliche Gespräch und gehe auf andere Menschen zu. Mich befremdet es, wenn Politiker stark auf die Abschottung unseres Landes setzen. Haben wir nur noch Angst oder auch eine Vision? In der katholischen Kirche kennen wir keine nationalen Grenzen, «katholisch sein» heisst übersetzt ja «grenzenlos sein».
Was kann unsere Gesellschaft vom «Mikrokosmos Benediktinerkloster » lernen?
Im Westen fehlt die «Rhythmisierung des Lebens». Viele Leute fühlen sich gestresst, obwohl wir heute weniger arbeiten als früher. Damals gaben das Licht, die Jahreszeiten und Feiertage den Lebensrhythmus vor. Heute können wir die Nacht künstlich zum Tag machen. Freizeiten werden zu Stresszeiten. Im Kloster halten wir uns an einen Rhythmus. Die Mahlzeiten nehmen wir zum Beispiel gemeinsam ein und pflegen sie wie ein Ritual. Dadurch ist man nicht unabhängig, aber innerlich freier. Darüber hinaus haben wir eine Vision, arbeiten auf etwas Höheres hin. Natürlich müssen wir wirtschaftlich denken, aber es gibt noch einen Sinn, der über allem steht. Es geht nicht nur um schneller, besser, mehr.
Interview: Katharina Rilling