Plateausohlen, bunt gemusterter Rock und ein T-Shirt mit einem doppeldeutigen Spruch mögen für die Gesangsstunde angehen. Auch das rote Gummiband der Unterhose, das gut sichtbar unter der tiefsitzenden Jeans hervorschaut, kann bei gewissen Gelegenheiten «voll cool» wirken. Schliesslich sind die Studierenden von Barbara Locher zu Beginn ihrer Bachelor-Ausbildung um die 19 Jahre alt. Mit ihren Kleidern tun sie ihren persönlichen Geschmack kund, manchmal auch eine Lebensauffassung. «Alles ist erlaubt, solange es um den privaten Bereich geht. Aber eine Konzertbühne ist kein Ort für weltanschauliche Manifestationen», sagt Barbara Locher, Dozentin für Sologesang am Departement Musik der Hochschule Luzern. Sie war noch jung, als sie sich grell wie ein Papagei kleidete und lernen musste, dass der Schritt auf die Bühne ein Schritt in die Öffentlichkeit ist, wo es um Kompetenz geht und nicht um Schein.
Die Frau «mit Baujahr 1952» weiss, dass Kleider, Gestik und Make-up einen Bühnenauftritt günstig unterstreichen oder vom Gesangsvortrag ablenken können. Wie hat sie sich doch schon geärgert, wenn tolle junge Frauen ihren Auftritt verpatzten, weil sie falsch angezogen waren. «Ich könnte doch», sagte sie sich vor vier Jahren, «meinen Studierenden helfen, auf der Bühne vorteilhaft auszusehen und das Publikum auch optisch für sich einzunehmen. » Ihr freiwilliger Workshop war geboren. Dozierende, die zu Beginn über die Idee die Nase rümpften, wurden mittlerweile eines Besseren belehrt. Der Kurs wird von den Studierenden geschätzt; sie ziehen ihre Gesangsprofessorin auch ausserhalb dieser Lektion bei, wenn sie Kleiderfragen haben. Barbara Locher spricht mit ihnen auch über Gestik, wann sie passend unterstreicht und wann sie wie Gefuchtel wirkt. «Die Ausstrahlung dagegen kann nicht antrainiert, sondern höchstens gefördert werden.»
Kleiden, nicht verkleiden
Ihre Stilsicherheit verdankt Barbara Locher ihrem Flair für Ästhetik, vor allem aber ihrer Freundin, einer Visagistin. Ihr grösster Modelapsus war vor Jahren ein weisses Kleid mit grosser Schleife, das auf der Bühne aussah wie ein Nachthemd. Wo liegt eigentlich der Unterschied zwischen Kleiden und Verkleiden? Die sonst so schlagfertige Barbara Locher muss nachdenken. «Verkleiden ist verbergen, um seine Persönlichkeit wegzusperren. Sich kleidsam kleiden dagegen öffnet und unterstreicht eine Erscheinung.» Junge Menschen befinden sich nicht nur gesanglich, sondern auch persönlich in einem Reifungsprozess. Jedem soll sein eigenes Tempo zugestanden werden. Locher: «Ich sehe mich nicht als Expertin mit erhobenem Zeigefinger, sondern als Beraterin. Tout est à prendre ou à laisser.»
Alexandre Beuchat, Student im 1. Semester im Master-Studiengang, sagt: «Barbara hat mich bestärkt in dem, was ich schon befolgte.» Bei Männern ist der Spielraum klein, sodass sie kaum Gefahr laufen, sich falsch zu kleiden. Es geht höchstens um Fragen wie: Schwarzer Anzug oder Frack? Weisses oder schwarzes Hemd? Krawatte oder Fliege? Oft ist zudem im Vertrag zu einem Auftritt das Tenue festgeschrieben. Der Frack, den der 25-Jährige erstanden hat, ist für ihn nicht das angesagteste Kleidungsstück, dennoch fühlt er sich darin wohl. «Ich sehe ihn als Reverenz ans Werk und ans Publikum, für das ich mich festlich kleiden will.»
Bei Frauen ist es komplizierter. Auch deshalb, weil heute mehr erlaubt ist als zu Zeiten, als Konzertsängerinnen stets mit tief dekolletierten, ausladenden Roben aufzutreten hatten. Das kleine Einmaleins der richtigen Bekleidung fasst Barbara Locher so zusammen: «Sich gut kleiden hat mit Ehrlichkeit und Echtheit zu tun.» Körperproportionen und Farben müssen auf die Person abgestimmt sein. Mit dunklen Tönen und fliessenden Stoffen seien alle schon mal auf der guten Seite. Um herauszufinden, wo der Blick hingelenkt werden solle und wo er sicher nicht hinfallen dürfe, stelle man sich zu Hause allein vor den Spiegel und betrachte sich schonungslos kritisch. «Wer sein Äusseres akzeptiert, kleidet sich besser.»
Der Rolle gerecht werden
Die Sopranistin Nuria Richner aus Schwyz, die vor dem Abschluss des Masters in Performance steht, ist ihrer Dozentin dankbar für ihre ehrliche Rückmeldung. «Ich hab bei ihr vieles gelernt: schminken ja, sogar kräftig, aber keine Aufheller mit Glitzerpartikeln über den Augen. Wangenrouge ist okay, aber nur dort, wo es dem Gesicht schmeichelt. Und lange Haare besser zusammenbinden, damit das Gesichtsfeld im doppelten Sinn weit ist.» Nie habe sie die Ratschläge von Barbara Locher als Eindringen in ihre Privatsphäre empfunden. Sie wolle ja helfen. Es gehe letztlich um eine Art Berufskleidung, die mit der Rolle als Sängerin übereinstimmen soll, damit man nach dem Konzert nicht vom Kleid, sondern von der Stimme spricht.
Behutsam, aber unmissverständlich weist Barbara Locher jene an, die modisch ins Abseits zu geraten drohen. «Strass und Pailletten sind erlaubt, wenn es nicht nach Nummerngirl aussieht. Hosen sehen schön aus, wenn sie weit geschnitten sind. Enge Röcke, an denen man dauernd herumzupfen muss, sind ebenso falsch wie Schuhe mit zu hohen Absätzen, auf denen die Sängerin mehr balanciert als steht. Auch ein verspieltes Accessoire liegt drin, wenn es nicht wie Firlefanz wirkt.» Je nach Ort des Auftritts, ob Kirche oder Konzertsaal, könne dasselbe Kleid einmal richtig und einmal falsch sein. Barbara Locher hätte das Zeug, beachtete Stilkolumnen zu schreiben. Sie lacht auf. «Warum eigentlich nicht?»
Autorin: Kathrin Zellweger