Eva Schümperli-Keller
UMA oder UMF? «Ich sage aus Prinzip immer ‹UMF› (unbegleitete minderjährige Flüchtlinge)», sagt die angehende Sozialarbeiterin Clarissa Becker von der Evangelischen Hochschule Darmstadt. «Mit dem Begriff ‹UMA› (unbegleitete minderjährige Ausländerinnen und Ausländer), der in Deutschland weit verbreitet ist, wird hauptsächlich die Nicht-Zugehörigkeit als ‹Ausländer/in› betont und die besondere Schutzbedürftigkeit dieser Kinder unterschlagen.» Nicole Hoekstra, die sich an der Hochschule Luzern zur Sozialarbeiterin ausbilden lässt, stimmt zu und verweist darauf, dass man in der Schweiz erst offiziell zum «Flüchtling» wird, wenn im Asylverfahren ein Anspruch auf Schutz festgestellt wurde. Beckers Studienkollege Jonas Kirchner meint: «Es ist schon etwas paradox: Den Titel ‹Flüchtling› muss man sich erst einmal verdienen.» Hoekstra, Becker und Kirchner sind drei von 110 Studierenden, die sich Anfang Dezember 2016 zum «International Course Youth and Migration: challenged borders – challenging boundaries » in Luzern treffen. Den Anlass mit Teilnehmenden von 17 verschiedenen europäischen Hochschulen hat die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit zusammen mit sämtlichen Schulen für Soziale Arbeit in der Schweiz auf die Beine gestellt. Suzanne Lischer, Dozentin und Projektleiterin am Departement Soziale Arbeit der Hochschule Luzern, und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Sarah Rabhi-Sidler sind für die Organisation der Studierendentagung verantwortlich. «Mit der Veranstaltung möchten wir nicht nur den fachlichen Austausch zu einem aktuellen Thema ermöglichen», erklärt Lischer, die als Exchange Programme Coordinator des Departements dessen internationales Netzwerk pflegt. «Wir wollen auch die Mobilität von Studentinnen und Studenten sowie Dozierenden fördern.»
Den Menschenrechten verpflichtet
An diesem zweiten Kurstag, einem Samstag, ist das Auditorium sehr gut besetzt, obwohl Einheimische und Gäste am Freitagabend das Luzerner Nachtleben genossen haben. Claudio Bolzman von der Fachhochschule Westschweiz, der erste Referent des Tages, macht darauf aufmerksam, dass die meisten internationalen Migrantinnen und Migranten ihr Land im Alter zwischen 16 und 35 Jahren verlassen. Diese jungen Leute hofften auf eine gute Ausbildung, Zugang zum Arbeitsmarkt, ein besseres Leben, sagt Bolzman: «Migration is a bet on the future.» Nach der Kaffeepause ist Nivedita Prasad, Professorin an der Alice Salomon Hochschule Berlin, an der Reihe. Ihr Vortrag ist ein leidenschaftliches Plädoyer für das Tripelmandat der Sozialen Arbeit. Professionelle der Sozialen Arbeit sind nicht nur dem Klienten/der Klientin und dem Staat verpflichtet, sondern auch immer den Menschenrechten. Prasad zeigt an Beispielen auf, dass Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter bei ihrer Tätigkeit im Asylbereich durchaus Gefahr laufen können, gegen die Menschenrechte zu verstossen. Etwa dann, wenn Asylheime nicht dem Menschenrecht auf eine adäquate Unterkunft entsprechen. Prasad ruft die angehenden Sozialarbeitenden dazu auf, sich in schwierigen Situationen an das Tripelmandat zu erinnern und krasse Missstände öffentlich anzuprangern. Sie erntet langen Applaus. Lischer pflichtet ihr bei: «Es ist wichtig, die Rolle der Sozialen Arbeit immer wieder kritisch zu reflektieren. Auch dafür bietet unser International Course eine Plattform.»
Die Gesellschaft in der Pflicht
Dann nimmt sie einen anderen Aspekt aus Prasads Vortrag auf: «Wir fordern von den Eingewanderten Integration. Das heisst aber auch, dass wir dazu bereit sein müssen, ihnen einen Platz in unserer Gesellschaft zu geben.» Jonas Kirchner pflichtet bei: «In den Flüchtlingsunterkünften, die oft isoliert abseits grösserer Siedlungen stehen, sind die Migrantinnen und Migranten von der Aufnahmegesellschaft separiert. Sie bleiben gezwungenermassen unter sich. Wie sollen sie sich da integrieren?» Er ergänzt, die Abschottung erschwere es den Einheimischen zudem, allfällig vorhandene Vorbehalte und Ängste abzubauen, denn es gebe für sie kaum Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit den Flüchtlingen. Alle Diskutierenden sind sich einig, dass ein «Gotte-/Götti-System» für Einwandernde und Aufnahmegesellschaft hilfreich wäre. Bei diesem wird den Migrantinnen und Migranten eine Patin oder ein Pate zur Seite gestellt. Lischer meint: «In der Freiwilligenarbeit bewährt sich dieses System. Die Aufnahmegesellschaft hat grundsätzlich eine Pflicht zur Inklusion. Der Staat muss sich die Integration zur Aufgabe machen.»
Kritisch hinsehen heisst nicht Negatives suchen
Clarissa Beckers Telefon klingelt: Ihre Arbeitsgruppe ruft sie zur Vorbereitungsrunde für das nachmittägliche World Café. Vorher möchte sie noch schnell etwas essen, denn bereits am Abend reisen Jonas Kirchner und sie wieder zurück nach Darmstadt und müssen wohl das Abendessen ausfallen lassen. Sie fügt noch an: «Ich finde es schade, dass sehr oft negative Beispiele im Vordergrund stehen, wenn die Soziale Arbeit kritisch begutachtet wird. Dabei gäbe es doch auch viel Positives zu berichten. Viele Sozialarbeitende machen einen hervorragenden Job. Das sollte man auch einmal würdigen.»