Flavia Dubach
Bis im Jahr 2030 wird die Zahl der über 79-Jährigen in der Schweiz um 77 Prozent auf über 738’000 Menschen ansteigen. «Aufgrund der Verringerung der körperlich belastenden Berufe, der Entwicklung der Medizin, der Prophylaxe, des Gesundheitsbewusstseins der Bevölkerung und des verbesserten Bildungsniveaus werden die Menschen nicht nur immer älter, sie bleiben auch immer länger fit», erklärt Christine Kuratli, Absolventin des MAS (Master of Advanced Studies) Alter und Gesellschaft. Deshalb stellte sie für ihre Abschlussarbeit «Wohnen im Alter im ländlichen Raum mit Versorgungssicherheit durch Einbezug von Nachbarschaftsund Freiwilligenhilfe» die These auf, dass ältere Menschen zum grössten Teil in ihrem angestammten Wohnumfeld bleiben möchten. Mithilfe einer Befragung von 124 Personen im Alter von über 75 Jahren an ihrem Wohnort Eglisau im Kanton Zürich konnte Kuratli diese These bestätigen.
Soziales Netz als Voraussetzung
Ein möglichst selbstständiges Wohnen bis ins hohe Alter ist nicht nur der Wunsch der Seniorinnen und Senioren – es kommt auch den Gemeinden zugute. Mit dem neuen Pflegegesetz von 2011 sind die Gemeinden dazu verpflichtet, die fachgerechte Pflege und Unterbringung ihrer Einwohnenden zu gewährleisten und die Restkosten der stationären und ambulanten Pflegekosten zu übernehmen. Als möglichen Lösungsansatz für den Verbleib von älteren Menschen in ihrem Wohnumfeld nennt Kuratli die Freiwilligenarbeit: «Ein soziales Netz ist die Voraussetzung, damit alleinstehende alte Menschen zu Hause bleiben können. Sind keine Familienangehörigen in der Nähe, sind Seniorinnen und Senioren neben der Spitex und anderen dienstleistenden Organisationen auf Freiwilligen- und Nachbarschaftshilfe angewiesen.» Die Freiwilligen übernehmen z. B. Fahrdienste zum Einkaufen, zu Arzt- oder Coiffeurterminen, engagieren sich im Besuchsdienst oder begleiten die alten Menschen ins Theater oder Kino.
Gegen Monetarisierung
Anhand einer zweiten Umfrage in der Gemeinde Eglisau fand Kuratli heraus, dass sich neben dem bereits bestehenden, 38 Personen umfassenden Besuchsdienst 49 weitere Personen – vor allem kürzlich Pensionierte und junge Mütter – freiwillig engagieren wollen. Als wichtige Voraussetzung für ein Engagement wurde die Regelung der Stellvertretung genannt. Insbesondere die Pensionierten möchten sich in ihrer neu gewonnenen Freiheit nicht zu stark einschränken lassen. Kuratli spricht sich in ihrer Arbeit gegen eine Monetarisierung der Freiwilligenarbeit aus: «Zeit schenken – dies ist der Kern der Freiwilligenarbeit. Anerkennung für diese Tätigkeit sollte nicht im Rahmen einer Entlöhnung, sondern durch (öffentliche) Wertschätzung und die Möglichkeit zur kostenlosen Weiterbildung geboten werden.»
Ein Gewinn für alle
Im Anschluss an ihre Arbeit initiierte Kuratli im Jahr 2015 in Eglisau einen Freiwilligendienst als erweiterte Nachbarschaftshilfe. Aus dem im Juni 2016 erstellten Erfolgsbericht wird deutlich, dass der Freiwilligendienst – inklusive wöchentlichem Mittagstisch – sehr gut funktioniert und sich viele Personen in unterschiedlichen Funktionen engagieren. Dadurch entsteht eine Win-win-Situation für alle Beteiligten: Die Freiwilligen leisten einen wertvollen Beitrag und erhalten dafür Wertschätzung und Anerkennung, die Seniorinnen und Senioren können länger in ihrem gewohnten Wohnumfeld bleiben, und die Gemeinden sparen durch die zeitlich verringerten Heimaufenthalte erhebliche Kosten ein.
Dieser Artikel ist in der Publikation «Soziale Arbeit», Ausgabe Oktober 2016, erschienen.