Der Dichte mehr Raum geben
Corona lässt uns alle zu Expertinnen und Experten des Wohnens werden. Das Leben findet weitgehend in den eigenen vier Wänden statt und stellt unsere Wohnung auf eine harte Probe. Wir nehmen Räume anders wahr und die Qualitäten und die Defizite unserer Wohnung werden uns schlagartig bewusst. Was bisher eher ein Grundrauschen war, wird plötzlich zum tosenden Orkan. Spätestens dann, wenn einem buchstäblich die Decke auf den Kopf fällt bzw. der Laptop vom Küchentisch. Auf dem Prüfstand stehen aber auch die gängigen rendite- und effizienzgetriebenen Angebote der Immobilienwirtschaft: Der weggesparte Balkon führt dazu, dass Natur nur durch das dreifachverglaste Fenster erfahren wird. Ausgemergelte Grundrisse verhindern Flexibilität, Homeschooling findet auf dem Sofa statt und die Toilette wird zum Rückzugsort. Wo ist der Spielraum, um meine Wohnung flexibel zu nutzen? Wo ist der private Aussenraum, der den Bezug zur Natur und mir Luft verschafft? Wo sind Gemeinschaftsräume, die eine gemeinsame Nutzung auch in Kleinstgruppen möglich machen und Interaktionen fördern?
Jede Krise bringt neue Einsichten. Das Bauhaus mit seinem Credo des gesunden und bezahlbaren Wohnens «Licht, Luft und Sonne» war auch eine Reaktion auf die unzumutbaren hygienischen Zustände in den Arbeitersiedlungen der Weimarer Republik. So gesehen bringt Corona auch die Chance einer Rückbesinnung auf nicht verhandelbare Qualitäten im Wohnungsbau; die Situation lässt uns das gängige Angebot der Immobilienwirtschaft hinterfragen. Corona unterstreicht aber auch deutlich die Notwendigkeit von sorgfältig geplanten dichten Strukturen. Wer nun behaupten möchte, dass die Pandemie ein Beweis dafür sei, dass zu viel Dichte schädlich sei, möge sich daran erinnern, wie viel Not durch eine funktionierende Nachbarschaft gelindert wurde – die überhaupt erst durch soziale Dichte und verdichtete Strukturen entstehen konnte. Nur wer seinen Nachbarn kennt, kann auch helfen. Wer sich als Teil einer Gemeinschaft erlebt, wird solidarisch handeln können. Und dafür benötigt es Raum für Austausch, Begegnung, aber auch für individuellen Rückzug im Freien. Im Zwischenraum – im Dazwischen der Gebäude – entstehen Nutzungsspielräume, die das Gefühl für verfügbaren Raum erweitern und Dichtestress vermeiden. Denn nicht die Dichte ist das Problem, sondern die beliebige Anordnung anonymer Baumassen, die keine Luft zum Atmen lässt und Anonymität und Isolation fördert. Und schon kommen Anfragen, ob man die Plätze nicht «Social Distancing»-gerecht planen könnten. Es ist absurd, eine aussergewöhnliche Situation aus einem falsch verstandenen Sicherheitsbedürfnis zur Norm werden zu lassen. Wir laufen Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Ich schlage eine andere Strategie vor: Verdichtete Strukturen benötigen nicht weniger, sondern mehr Zwischenraum, mehr Begegnungszonen und weniger Vorschriften der Nutzung. Anstelle eines grossen zentralen Ortes dezentrale kleinere und selbstverwaltete Orte. Das nimmt Druck aus dem System und die Menschen können sich besser verteilen und organisieren. Corona lehrt uns tagtäglich die Qualität spontaner und selbstorganisierter Aktionen in ihrer Wirksamkeit zu schätzen. Die Zeit ist reif, unseren bisherigen Planungsalltag und Vorstellungen von Städtebau und Stadtentwicklung zu überprüfen. Lebendige und verdichtete Quartiere sind Ausdruck einer hohen Baukultur und der haushälterische Umgang mit Boden und anderen Ressourcen ist und bleibt oberstes Gebot. Und verwechseln wir Verdichtung nicht mit Enge! Das ist ungefähr so, als würden wir den Begriff Social Distancing mit Nachbarschaftshilfe gleichsetzten wollen.