«Vom Biologiebuch in den Bauplan»
Die Auseinandersetzung mit biologischen Phänomenen hat seit jeher das Denken über das Bauen mitgeprägt. Die Beobachtung «natürlicher» Erscheinungen lieferte immer wieder gewichtige Inspirationen für technische und gestalterische Neuerungen, einerseits durch konstruktive, strukturelle oder formale Gegebenheiten botanischen oder zoologischen Ursprungs, andererseits durch die eigentlichen Bauwerke von Tieren. Dabei ging es nicht primär um die formale Übernahme biologischer Bilder, sondern um das Herausschälen von Charakteristiken der biologischen Vorbilder.
Für das Bauen können dies Materialeigenschaften sein wie der immer wieder nachgeahmte Lotoseffekt – die Blätter der Pflanze sind dank winzigster Wachskristalle so beschaffen, dass sie Schmutz wenig Berührungsfläche bieten und Regen ihn leicht abwischen kann. Vor allem aber sind es strukturelle Erkenntnisse, wie die statische Struktur der Knochen, oder klimatische Lösungen, wie aus den Termitenhügeln abgeleitete natürliche Belüftungssysteme für Bauwerke.
Paradoxerweise ist es gerade die zunehmende Digitalisierung im Bauen, die das Lernen von der Natur auf eine neue Ebene hebt. Sie eröffnet Möglichkeiten, wieder deutlich komplexere Bauweisen und damit komplexere Konstruktionssysteme zur Anwendung zu bringen, denn sie macht diese zunehmend wirtschaftlich attraktiv. Gerade der Holzbau hat hier schon gewichtige Schritte vorzuweisen. Im Moment konzentriert sich die Diskussion um die Digitalisierung im Bauen stark auf Planungs- und Ausführungsprozesse. Der eigentliche Entwicklungsschub zeigt sich jedoch in der Herstellung von Bauteilen und bald wohl auch von ganzen Bauwerken. Eine dritte Ebene bildet das durch die Digitalisierung mögliche Verstehen hochkomplexer (mindestens sieht es oft danach aus) Konstruktionsprinzipien, wie sie gerade in der Natur auftreten. Hier steckt noch immer eine Unmenge an Innovation.
Aus dem Fundus der Geschichte der Architektur ist die Gotik eine Stilepoche mit aktuellem und fast exemplarischem Stellenwert. Strukturell lässt sich dort die Verästelung der verschiedenen Tragwerksteile bis hin zum Schmuck mit den Konstruktionsprinzipien des Baumes vergleichen. Heute kann die Suche nach den «genetischen» Grundbedingungen der Architektur – entgegen der weitgediehenen Verarmung konstruktiver Innovation, welche die letzten Jahrzehnte des Bauens gerade von Häusern geprägt hat – wieder in den Fokus des architektonischen Schaffens genommen werden. Vor allem dann, wenn nicht die formale Extravaganz die entwerferische Arbeit prägt, sondern die konstruktive Virtuosität.
Die «Konstruktion» in der Biologie ist durchwegs eine optimierte Materialanwendung, in der die verschiedenen Teile in gegenseitiger Abhängigkeit in eine Wechselwirkung treten. Die verschiedenen Anforderungen führen zu optimaler Massenverteilung, idealer Ausrichtung, maximaler Elastizität u.v.m. Die Erscheinung ist funktional geprägt, erlaubt aber eine immense Ausdrucksvielfalt. Lässt sich das Bauen davon inspirieren, bleibt es in den Gegebenheiten der kulturellen und technischen Entwicklung verhaftet, kann sich aber von Gewohnheitslösungen entfernen. Dies ist heute so bedeutungsvoll, weil sich auf der Ebene der Produktionstechniken und -methoden eine Bandbreite öffnet, die vieles möglich erscheinen lässt, was bis vor kurzem auch wirtschaftlich nicht realisierbar war.
Vor diesem Hintergrund werden die biologischen Referenzen zum immensen Fundus. So wird die Wand zur Haut, Gebäude interagieren mit ihrer Umwelt und auch, noch ein Stück grösser gedacht, die Siedlung wird zum gemeinschaftlichen Lebensraum. Damit wären wir dann hoffentlich wieder bei einem nachhaltigen Bauen, von dem sich unsere gebaute Realität in den letzten Jahrzehnten doch ein schönes Stück entfernt hat.