Overview
Unter dem Begriff «Kindesvernachlässigung» wurden und werden zum Schutz betroffener Kindern weitreichende Eingriffe in Familien legitimiert. Begriff, Formen und Benennung möglicher Ursachen der Kindesvernachlässigung, welche die Fürsorgepraxis bestimmen, variieren indes nach Zeit und Disziplin erheblich. Historische Praxen zeigen auf, dass es notwendig ist, auch gegenwärtige Entscheidungsprozesse genau unter die Lupe zu nehmen. Wir analysieren Merkmale, Mechanismen und Wirkungsweisen der Schweizer Fürsorgepraxis in Fällen der Kindesvernachlässigung. Unser Ziel ist es, mögliche Ursachen für integritätsverletzende und -schützende Praxen zu identifizieren. Dazu analysieren wir in fünf Kantonen aktuelle politische/öffentliche Diskurse und Expertendiskurse (2019) zu Familie, Erziehung und Mutterschaft, setzen diese in Beziehung mit vergangenen (2009/2010) und stellen diesen die Perspektive betroffener Mütter gegenüber.Historisch waren arme Familien und ledige Mütter häufiger von staatlichen Eingriffen betroffen. Erziehung war dabei ein wichtiges Kriterium, den staatlichen Eingriff zu legitimieren, während die ökonomische Situation der Familien und ledigen Mütter marginalisiert wurde. Parallelen zu diesen Befunden zeichnen sich auch für die Gegenwart ab und machen deutlich, dass auch die aktuelle Schweizer Fürsorgepraxis in Fällen der Kindesvernachlässigung einer sorgfältigen Analyse und Reflexion bedarf.Mit diesem Projekt verfolgen wir das Ziel, die aktuellen Diskurse zu Familie, Erziehung und Mutterschaft im Zusammenhang mit Kindesvernachlässigung zu rekonstruieren und analysieren, um so mögliche Ursachen für integritätsverletzende und -schützende Praxen identifizieren zu können. Es stellen sich dabei die Fragen, wie sich die Diskurse gestalten und auf Entscheidungsprozesse auswirken, und ob eine Kontinuität sozialdisziplinierender Mechanismen auszumachen ist.Eine systematische Analyse aktueller und historischer Diskurse generiert Wissen über die Wirkmächtigkeit impliziter Normvorstellungen und liefert Hinweise auf Veränderungsbedarf in der Praxis der Sozialen Arbeit, damit Soziale Arbeit für Betroffene unterstützend ausgestaltet werden kann und nicht Gefahr läuft, die Verwundbarkeit betroffener Familien zu erhöhen. Eine Sensibilisierung von Fachkräften, eigene normative Bilder zu reflektieren, kann dazu beitragen, willkürliche Entscheide und eine Reproduktion von Machtstrukturen zu verhindern.