Anette Eldevik
Grössere Bauprojekte stehen immer wieder in der Kritik der Öffentlichkeit. Zunehmend werden informelle Beteiligungsverfahren durchgeführt – auch um ein Scheitern fortgeschrittener Projekte an der Urne zu verhindern. Städte wie Luzern, Bern, Zürich oder Basel beziehen die Bevölkerung immer wieder bei Planungsvorhaben ein. «Stadt der Beteiligung» zu sein, war 2017 bis 2020 sogar Legislaturziel der Stadt Bern. Denn die Berücksichtigung von Bottom-up-Anliegen führt zu einer breiten Abstützung von Planungsvorhaben und kann somit dauerhafter sein als eine aufoktroyierte Lösung.
Die Hochschule Luzern kann auf insgesamt zwanzig Jahre Erfahrung mit soziokulturellen Prozessen im Bereich Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung zurückblicken. Das preisgekrönte Projekt BaBeL im Luzerner Quartier Basel-/Bernstrasse bildete den Anfang, mittlerweile ist ein reicher Erfahrungsschatz von rund 40 Projekten entstanden – etliche davon unter Mitwirkung von Ulrike Sturm und Alex Willener, zwei ausgewiesene Fachpersonen auf dem Gebiet. Die interdisziplinäre Kombination von Planung und Soziokultur wird nun in den Energiesektor überführt. Im Luzerner Quartier Wesemlin sollen Liegenschaftsbesitzende für die Vorteile von gemeinsamen erneuerbaren Energieanlagen sensibilisiert werden. Das von Innosuisse geförderte Projekt könnte Signalwirkung für die Energiewende haben.
Stärkung der gesellschaftlichen Dimension
Bei der Energiewende oder im Kampf gegen die Zersiedelung sind unter anderem die Gemeinden dafür verantwortlich, die Ziele des Bundes umzusetzen. Diesbezüglich fehlt es aber teilweise, wie auch bei Privatpersonen, an Know-how. Hier zeigt sich das Potenzial von Partizipation, denn fachlich begleitete Bottom-up-Projekte mit skalierbaren Ergebnissen können den Fortschritt vorantreiben. «Etwas überspitzt gesagt können Zwangslagen zu Innovation beitragen. Insofern ist beim Thema Energie jetzt der richtige Moment», sagt Ulrike Sturm, Leiterin des Instituts für Soziokulturelle Entwicklung an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Dass die Soziokultur die betroffenen Menschen ins Zentrum rücke und sie als Ortsexpertinnen und -experten wahrnehme, sei dabei sehr förderlich. Dozent und Projektleiter Alex Willener stimmt zu: «Dieses Grundprinzip bewährt sich immer wieder, wie jetzt auch im Wesemlin. Die Leute kennen den eigenen Wärmebedarf, ihre Nachbarschaft und finden dadurch zu pragmatischen, aber auch zu visionären Ideen.»
Auch der Bund erkennt dies. So kommt das Nationale Forschungsprogramm Energie zum Schluss, dass die Bevölkerung einen wesentlichen Beitrag zur Energiewende leisten müsse und könne, dies aber noch nicht Realität sei. Das soeben vom Bundesamt für Energie ausgeschriebene Förderprogramm SWEET-Call 2021/1 zum Thema «living & working» fordert daher explizit den Einbezug der gesellschaftlichen Dimension und der entsprechenden Expertise.
Leuchtturm Wesemlin?
Das Wesemlin-Projekt (QUBE) stützt sich unter anderem auf die Prämisse, dass eine gemeinsame umweltschonende Energieproduktion sowohl wirtschaftlicher als auch ökologischer ist. In einem Vorprojekt konnte das Forschungsteam bereits Erkenntnisse sammeln und eine denkmalgeschützte, aber baulich inzwischen heterogene, Siedlung gesamthaft auf Optionen prüfen. Darauf aufbauend sind nun Aktivierungs- und Sensibilisierungsprozesse im restlichen Quartier in Gang. Die Herausforderung liege nicht bei der technischen Machbarkeit, präzisiert Ulrike Sturm. Vielmehr gehe es darum, das Kollektiv davon zu überzeugen, «die Nachhaltigkeit und Langfristigkeit der erneuerbaren Energieproduktion als Wert anzusehen».
Schlüsselareal Industriestrasse
Steht das Wesemlin-Projekt erst am Anfang, findet am Luzerner Areal der Industriestrasse schon bald der Spatenstich statt. Dem vorausgegangen war ein langes Ringen um die künftige Ausrichtung dieses städtischen Schlüsselareals, das seit den 1970er-Jahren für Kreativität, Vielfalt und günstigen Wohnraum steht. Für den Fortbestand dieser Ideale machte sich eine Bürger/innen-Bewegung schon lange stark und durch ihre deutlich angenommene Volksinitiative wurde der Weg dann endgültig dafür frei. Die Stadt zeigte sich dialogbereit und blieb auch später für partizipative Prozesse offen. Denn das Projekt sollte immer wieder überraschen. So auch als eine ganz neuartige Organisation, eine aus mehreren Genossenschaften bestehende Kooperation, sich um die Bauträgerschaft bewarb und damit auch das Forschungsinteresse des Bundes weckte. Kurz vor Baubeginn lässt sich sagen: Die breite Mitwirkung hat sich gelohnt. Luzern kann sich auf eine attraktive, vielfältige und gemeinschaftsfördernde Überbauung freuen, ganz im Sinne der Initiantinnen und Initianten.
Daher: So unterschiedlich die Projekte sind, im Kern geht es laut Sturm und Willener jeweils um die Aktivierung und Teilhabe von Menschen an zukunftsorientierten, gemeinsamen Anliegen. Dies zu ermöglichen, macht Soziokultur in vielen interdisziplinären Handlungsfeldern wertvoll.
Quartierbezogene erneuerbare Energien (QUBE) im Wesemlin-Quartier
Um den CO2-Ausstoss im Gebäudesektor Schweiz zu reduzieren, soll die kooperative Energieproduktion auf Quartierebene gestärkt werden. Das ist das Ziel des Projekts im Luzerner Quartier Wesemlin, das von Innosuisse und Beteiligten aus Wirtschaft und Politik gefördert wird. Mehr unter: hslu.ch/qube
Industriestrasse
Bis 2025 entstehen an der Luzerner Industriestrasse rund 600 Wohn- und Arbeitsplätze. Diesem Vorhaben liegt ein umfassender Partizipations- und Planungsprozess zu Grunde, den die Hochschule Luzern seit 2012 punktuell begleitet, unter anderem mit Unterstützung des Bundes. Mehr unter: hslu.ch/industriestrasse
Infos zu Soziokultur unter: hslu.ch/ise