Anette Eldevik
Wer rastet, der rostet, sagt der Volksmund. Auch Seniorinnen und Senioren werden immer fitter. Oder trügt der Schein etwa? «Jein», sagen die Forschenden Karin Stadelmann und Mario Störkle. Die «jungen Alten» spielen zwar eine zusehends grössere Rolle, aber eindeutig stimmt nur: Die Lebenserwartung ist in der Schweiz hoch und der Anteil der Pensionierten steigt rasch an.
Damit ist aber nicht allen ein sorgenfreies, aktives Altern vergönnt. Dies gilt besonders für Armutsbetroffene oder, so Störkle, für viele, die etwa körperlich hart gearbeitet haben und daher fragil sind: «Das Konzept vom aktiven Altern kann die Leute auch unter Druck setzen.» Stadelmann bestätigt: «Viele sind auch verunsichert, sei es in finanzieller oder persönlicher Hinsicht. Die Angst vor dem Alleinsein etwa ist bei vielen gross.» Sie glaubt auch, dass das Konzept gesellschaftlich oft falsch verstanden wird. «Aktiv-Sein wird oft mit sichtbarer Aktivität oder Sport gleichgesetzt. Aber aus meiner Sicht geht es darum, das zu tun, was einem individuell entspricht.»
Feststeht: Die Lebensumstände und die Bedürfnisse der älteren Generation sind genauso heterogen wie die der jungen. Es braucht daher Rahmenbedingungen und Angebote, die individuelle Lebens- formen und Selbstbestimmung unterstützen und ein würdevolles Altern ermöglichen.
Hohe Freiwilligenquote
Dass aber viele Personen nach der Rente noch mitten im Leben stehen, ist unbestritten. Ein gutes Beispiel dafür sind die Innovage-Netzwerke, die Soziologe Mario Störkle viele Jahre untersucht hat. Die Innovage-Mitglieder möchten ihre Zeit sinnvoll nutzen und der Gesellschaft etwas zurückgeben. «Zudem kann die neue Aufgabe auch über den Verlust des Erwerbslebens hinweghelfen», so Störkle. Sie bauen Mittagstische auf, unterstützen Jugendliche und helfen gemeinnützigen Zwecken mit Projektmanagement und Beratung. Die Netzwerke boomen: «Mittlerweile erstrecken sie sich über die ganze Schweiz.» Dieses nachberufliche Engagement sei nicht nur eine Sache von privilegierten Ex-Managerinnen und Ex-Managern, sondern eher ein Mittelstandsphänomen und habe auch mit der grossen Vereinslandschaft hierzulande zu tun.
Erfahrungen während Corona
Dass der Corona-Lockdown in diesem aktiven Umfeld schlecht ankam, überrascht daher nicht. Insbesondere die behördlich attestierte Schutzbedürftigkeit der Alten und das Social Distancing waren problematisch. Deutlich wurde vor allem auch, wie Fremd- und Selbstwahrnehmung auseinanderklafften. Störkle: «Für viele Ältere ist das biologische Alter nicht so entscheidend. Viel wichtiger ist ihnen ihr Gesundheitszustand. Darauf hätten die Behörden aus ihrer Sicht abstellen sollen.» Wo es möglich war, setzten viele daher ihr Engagement auch trotz Corona mit Hilfe von Zoom und Co. fort.
Sozialpädagogik und Betreuung
Wenn aber Kraft und Selbstständigkeit schwinden, wird die Frage nach guter Betreuung bis ans Lebensende wichtig. Das ist ein Kernthema von Karin Stadelmann und ihrer Kollegin Rita Kessler. Damit bearbeiten sie ein aus sozialpädagogischer Sicht wichtiges neues Feld. Während Pflege und Medizin in der Altersversorgung sehr gut abgedeckt sind, komme der psychosoziale Aspekt vielfach zu kurz. Stadelmann: «Die Medizin sorgt dafür, dass ich schmerzfrei bin. Aber wer kümmert sich um mich, wenn ich mich einsam fühle oder Hilfe im Alltag brauche?» Reflexion, Gesprächsführung, Case Management oder andere Kompetenzen der Sozialen Arbeit sind auch aus Sicht der anderen Professionen sinnvoll. «Viele Pflegekräfte haben mir bestätigt, dass sie das nicht gelernt haben oder dass dafür die Zeit oft fehlt.» Dass vieles in diesem Bereich informell oder durch Freiwillige abgedeckt wird, ist auf Dauer keine Lösung. Die Fachfrau für Palliative Care weiss: «In den Übergangsphasen des Lebens braucht es professionelle Hilfe. Wenn die Zeit endlich wird, geht es um persönliche Lebensqualität, sei es, Zeit mit den Liebsten zu verbringen, oder dass jemand da ist und zuhört. Genau darin, in der Unterstützung im Alltag, ist die Soziale Arbeit gut.» Ziel ihres Forschungsprojektes ist es, konkrete Anknüpfungspunkte und Inhalte von guter Betreuung für die Praxis und Ausbildung zu liefern. Denn die Soziale Arbeit ist am Lebensende genauso wichtig wie am Lebensanfang, wo sie sich durch die Kinder- und Jugendförderung ja schon lange etabliert hat.
Neues Luzerner Altersleitbild
Karin Stadelmann und Mario Störkle bringen ihr Fachwissen auch in der aktuellen Revision des Altersleitbildes des Kantons Luzern ein. Im Auftrag der kantonalen Dienststelle Soziales und Gesellschaft (DISG) führten sie mehrere partizipative Workshops mit Seniorinnen und Senioren sowie Interessensgruppen und Fachorganisationen durch, damit die Direktbetroffenen die für sie wichtigen Fragen zum Alter(n) benennen und reflektieren können, bevor diese Teil des politischen Dialogs werden. Beide Forschenden begrüssen es sehr, dass der Kanton die Stakeholderinnen und Stakeholder aktiv einbezieht und sie zu Beteiligten macht.
Projekte wie diese sind ein ermutigendes Signal dafür, dass das Alter ernsthaft, differenziert und im Sinne der Zielgruppe diskutiert wird. So sagt Karin Stadelmann: «Das Thema geht uns alle an und sollte uns somit etwas wert sein.»
Netzwerk Alter
Karin Stadelmann und Mario Störkle gehören zum Netzwerk Alter der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Die beteiligten Forschenden beschäftigen sich auf interdisziplinäre Weise mit dem Thema Alter und ergänzen damit die gesundheits- und sozialpolitischen Diskussionen, die oft die Pflege in den Fokus nehmen. Zu den Schwerpunkten zählen: die Fragen des Zusammenlebens, der Betreuung, des Wohnens im Alter, der kommunalen Alterspolitik sowie sozialplanerische Herausforderungen.
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