Interview: Eva Schümperli-Keller
Diana Wider, Donat Knecht, wir sprechen heute über Interdisziplinarität und Interprofessionalität in der Sozialen Arbeit. Was versteht man darunter?
Diana Wider: Soziale Probleme sind oft komplex und machen an den Grenzen der Disziplinen nicht halt. Deshalb braucht es die interdisziplinäre Zusammenarbeit, bei der Fachpersonen unterschiedlicher Disziplinen zusammenwirken.
Donat Knecht: Verwandt damit ist die interprofessionelle Zusammenarbeit, bei der verschiedene Professionen beziehungsweise Berufsgruppen in der Praxis zusammenarbeiten.
Diana Wider: Interdisziplinarität bezieht sich auf die Theorie der Sozialen Arbeit, Interprofessionalität auf ihr Handeln in der Praxis.
In welcher Hinsicht sind Interprofessionalität und Interdisziplinarität für die Soziale Arbeit relevant?
Donat Knecht: Die Soziale Arbeit wird auch als transdisziplinäre Handlungswissenschaft beschrieben. Sie ist zwar eine eigene Disziplin mit eigenen Wissensbeständen, für ihr Handeln braucht sie aber auch Wissensbestände anderer Disziplinen und verknüpft sie auf eine ganz spezifische Art. Soziale Arbeit sorgt dafür, dass ihre Zielgruppen inkludiert leben können, sei es in der Arbeitswelt, im Gesundheitsbereich, in der Bildung oder bei der politischen Partizipation. Damit kommen Fachpersonen der Sozialen Arbeit weit über das Sozialwesen hinaus mit anderen gesellschaftlichen Bereichen und Berufsgruppen in Kontakt.
Welche Formen der interdisziplinären und interprofessionellen Zusammenarbeit gibt es?
Diana Wider: Ich unterscheide Multi-, Inter- und Transdisziplinarität. Je nachdem ist sie intensiver und braucht eine andere Struktur und andere Ressourcen. Bei der Multidisziplinarität arbeiten mehrere Disziplinen nach- oder nebeneinander an einem Thema, bleiben aber in ihrer eigenen Disziplin. Bei der Interdisziplinarität ist die Zusammenarbeit enger, die Grenzen der Disziplinen werden überschritten, zum Schluss trägt man alles Wissen zusammen und erstellt eine gemeinsame Synthese. Bei der Transdisziplinarität werden die Grenzen aufgehoben, denn die Zusammenarbeit ist so intensiv, dass ein neuer theoretischer Rahmen entsteht.
Donat Knecht: In der Praxis ist die Unterscheidung ganz ähnlich: Bei der Multiprofessionalität stimmt man sich mit anderen Berufsgruppen ab, bei der Interprofessionalität verknüpft man die Arbeit der verschiedenen Professionen, und bei der Transprofessionalität lassen die verschiedenen Fachbereiche gemeinsam etwas Neues entstehen.
Donat Knecht, Sie haben an einer Studie über interprofessionelle Zusammenarbeit im Gesundheits- und Sozialbereich mitgewirkt. Welches waren Ihre Haupterkenntnisse daraus?
Donat Knecht: Es hat sich klar gezeigt, dass die interprofessionelle Zusammenarbeit auf allen Ebenen Gewinn bringt. Die Adressatinnen und Adressaten fühlen sich ernst genommen, erhalten eine bessere Leistung und erreichen eine höhere Lebensqualität. Für die Fachpersonen wird die tägliche Arbeit interessanter und führt zu einer grösseren Zufriedenheit. Die Organisationen merken, dass ihre Tragfähigkeit erhöht wird und dass sie mit schwierigen Situationen besser umgehen können. Für den Sozialstaat schliesslich geht es um die Frage der Koordination und der Wirksamkeit. Interprofessionelle Zusammenarbeit ist also kein Selbstzweck, sondern bringt ganz klar einen Nutzen.
Diana Wider: Ich sehe interprofessionelle Zusammenarbeit auch als individuelle Weiterbildung: In der Diskussion mit Fachpersonen anderer Disziplinen lerne ich ständig dazu.
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit spielt in vielen Tätigkeitsfeldern der Sozialen Arbeit eine Rolle – neben dem Gesundheitsbereich und der Bildung auch etwa bei der Betreuung im Alter. Im Kindes- und Erwachsenenschutz ist sie durch die Einführung der KESB gewissermassen offiziell rechtlich verankert worden. Wie hat sich das bewährt?
Diana Wider: Sehr gut. Sozialarbeitende und Juristinnen und Juristen sitzen gemeinsam im Gremium, weil man gemerkt hat, dass es im Kindes- und Erwachsenenschutz beide Professionen braucht und dass sie sich gut ergänzen. Ich habe Interviews mit Klientinnen und Klienten der KESB geführt und deren wichtigster Anspruch war, ernst genommen zu werden. Um diesem Anliegen nachzukommen, hat die KESB die Pflicht, diese Personen anzuhören. Aber das reicht noch nicht: Es kommt auch darauf an, wie man die Anhörung gestaltet. Das Recht gibt die Pflicht zur Anhörung vor und die Soziale Arbeit bestimmt wiederum, wie man ein gutes Gespräch führt. Das Ziel ist, dass die Klientinnen und Klienten die Massnahmen verstehen.
Wo gibt es allenfalls noch Handlungsbedarf?
Diana Wider: Handlungsbedarf sehe ich bei den Ressourcen: Interprofessionelle Zusammenarbeit braucht zeitliche Ressourcen und Gefässe für den Austausch, das ist noch nicht überall gegeben. Zudem könnte man sich überlegen, ob nicht die Soziale Arbeit in diesem Bereich die Leitdisziplin sein müsste; momentan ist es das Recht. Wichtig ist aber doch, dass die Klientinnen und Klienten nachvollziehen können, warum sie einen Beistand oder eine Beiständin haben und was diese Person macht.
Das kürzlich für die KESB entwickelte Berner und Luzerner Abklärungsinstrument ist aus Ihrer Sicht ein besonders gelungenes Beispiel für Interdisziplinarität. Weshalb?
Diana Wider: Es ist gelungen, die sozialarbeiterischen und rechtlichen Aspekte miteinander zu verknüpfen und teilweise zu etwas Neuem zu machen: zu einem neuen gemeinsamen Rahmen, der für alle bei der Abklärung beteiligten Professionen nutzbar gemacht werden konnte. Wenn nun in der Praxis jemand mit dem Instrument arbeitet – egal ob Juristin, Sozialarbeiter oder Psychologin – sollte man nicht mehr merken, welche Profession die abklärende Person hatte. Das Ziel ist eine bessere Qualität der Abklärungen und ein für die Betroffenen transparenter Prozess.
Dass interdisziplinäre Zusammenarbeit gelingt, ist auch abhängig von der Qualität der Ausbildung. Wie werden die Studierenden an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit darauf vorbereitet?
Donat Knecht: Die Dozierenden kommen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen: Soziale Arbeit, Soziologie, Psychologie, Recht, Philosophie und viele mehr. Damit müssen die Studierenden umgehen können. Gleichzeitig müssen sie in diesem Rahmen ein Professionsverständnis als Fachpersonen der Sozialen Arbeit entwickeln und lernen, was ihr disziplinärer Zugang zu sozialen Problemen ist. Die Studierenden werden – nicht zuletzt in praxisnahen Aufgabenstellungen und in der Praxisausbildung – immer wieder damit konfrontiert, dass sie Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen benötigen und dieses im Sinne der Sozialen Arbeit zusammenführen müssen.
Diana Wider: Aus meiner Sicht sind Sozialarbeitende als Dozierende in der Bachelor-Ausbildung zentral. Die Studierenden brauchen Modelle, um ein eigenes Professionsverständnis zu entwickeln, um herauszufinden, was sie als Sozialarbeitende ausmacht. Aufgrund der breiten Zuständigkeit der Sozialen Arbeit sind die Bezugsdisziplinen zwar wichtig; aber das, was die Soziale Arbeit im Kern charakterisiert, muss im Zentrum stehen. Schlussendlich baut die interprofessionelle Zusammenarbeit auf der eigenen Profession auf: Ich muss etwas können, was die anderen nicht können. Dazu brauche ich eine starke berufliche Identität.
Donat Knecht: Interdisziplinarität setzt erst ein- mal einen eigenen disziplinären Standpunkt voraus. Deshalb muss in der Ausbildung die Soziale Arbeit als Leitdisziplin im Zentrum stehen.
Die involvierten Fachpersonen müssen gleichberechtigt zusammenarbeiten, damit die interdisziplinäre Arbeit glückt. Wie gelingt es der Sozialen Arbeit als relativ junge Disziplin, sich als gleichberechtigte Partnerin zu behaupten?
Diana Wider: Ich muss wissen, was ich als Sozialarbeiterin beitragen kann, und noch viel wichtiger: Die anderen Professionen müssen wissen, was sie von mir erwarten können. Wenn sie wissen, dass ich etwas kann, was sie nicht können, bin ich attraktiv für eine Zusammenarbeit. Dafür muss man seine professionelle Leistung inszenieren, man muss darlegen, was man kann. Wenn ich als Beiständin ein Mandat führe, reicht es nicht, dass ich es gut führe. Ich muss im Rechenschaftsbericht zuhanden der KESB mit Bezug auf das Wissen der Sozialen Arbeit darlegen, was ich gemacht habe und warum. Dort muss ich meine Leistung inszenieren. Meiner Auffassung nach machen Sozialarbeitende das noch zu wenig. Diese «Kompetenzdarstellungskompetenz» muss man auch in der Bachelor-Ausbildung üben.
Donat Knecht, Sie waren viele Jahre lang Leiter des Kantonalen Sozialamts Zug und wissen, wie wichtig die Politik als Bezugsrahmen für die Soziale Arbeit ist. Wie können sich Sozialarbeitende wirksam politisch einbringen?
Donat Knecht: Es wird schon lange und kontrovers darüber diskutiert, ob Soziale Arbeit politisch ist. Mir gefällt das Modell von Günter Rieger, das besagt, dass Soziale Arbeit vier Funktionen gegenüber der Politik wahrnimmt: Erstens setzt die Soziale Arbeit Politik um; was wir tun, ist meist sozialpolitisch und sozialrechtlich gerahmt. Die zweite Funktion ist die Politikberatung: Wir haben exklusiven Zugang zu den sozialen Problemen der Gesellschaft und sind erfahren im Umgang damit. Wir können und sollen dieses Wissen aufbereiten und an die Politik weitergeben. Die dritte Funktion ist die anwaltschaftliche Vertretung unserer Zielgruppen. Die vierte ihre Ermächtigung, sich für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen. Die Soziale Arbeit macht die Politik nicht selber, aber sie hat ihr gegenüber wichtige Funktionen. Damit sie diese wahrnehmen kann, muss sie das politische «Spiel» verstehen.
Diana Wider, durch Ihren Werdegang – Sie haben als Juristin Soziale Arbeit studiert – verkörpern Sie gewissermassen Interdisziplinarität.
Diana Wider: Ich habe zwar die beiden Ausbildungen gemacht, bin aber deshalb nicht automatisch inter- disziplinär unterwegs, sondern je nach Thema triggert mich das Recht oder die Soziale Arbeit, aber eben nicht beides gleichzeitig. Ich muss beides bewusst abrufen. Das Gleiche gilt für die Praxis: Ein interprofessionelles Team alleine reicht nicht. Es braucht die bewusste Arbeit an der Interprofessionalität an sich sowie die dafür nötigen Strukturen und Ressourcen.
Diana Wider, Donat Knecht, wie würden Sie das Thema abschliessend bewerten und was wünschen Sie sich diesbezüglich für die Soziale Arbeit?
Donat Knecht: Dass sich Disziplinen und Professionen auf Augenhöhe begegnen können, hat leider auch viel mit Status zu tun. Ich wünsche mir darum eine selbstbewusste Soziale Arbeit, aber auch, dass es normaler wird, dass man in der Sozialen Arbeit den Master macht, und dass auch ein Doktorat in Sozialer Arbeit möglich ist. Für gewisse Stellen werden höhere Abschlüsse vorausgesetzt; deshalb findet man in zentralen Führungs- und Fachfunktionen in sozialen Organisationen und Sozialverwaltungen häufig keine Fachpersonen der Sozialen Arbeit, obwohl diese rein fachlich dafür prädestiniert wären.
Diana Wider: Die berufliche Identität muss gestärkt werden. Sie ist wichtig, damit man von den anderen Professionen eine Legitimität erhält. Die Soziale Arbeit soll sich dazu nicht nur interdisziplinär ausrichten, sondern vermehrt auch disziplinär. Dann kommt der Rest von selbst. Eine starke berufliche Identität ist wichtig, um sich in der interprofessionellen Zusammenarbeit einzubringen. Ziel ist der grössere Nutzen für die Klientinnen und Klienten; die Interprofessionalität ist der Weg dazu.
Weitere Informationen
Diana Wider ist Juristin und Sozialarbeiterin. Sie ist seit über zehn Jahren Generalsekretärin der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES). Als Dozentin und Projektleiterin am Institut Sozialarbeit und Recht der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit befasst sie sich vor allem mit rechtlichen und sozialarbeiterischen Aspekten sowie der interprofessionellen und interorganisationalen Zusammenarbeit im Kindes- und Erwachsenenschutz.
Donat Knecht ist Sozialarbeiter und hat einen Professional MBA in Sozialmanagement absolviert. Er war viele Jahre Leiter des Kantonalen Sozialamts Zug sowie als Kantonsrat politisch aktiv. Als Dozent und Projektleiter arbeitet er am Institut Sozialpolitik, Sozialmanagement und Prävention der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit und lehrt und forscht vor allem in den Bereichen der Sozialpolitik, der Sozialplanung sowie der Führung und Entwicklung sozialer Organisationen.
Interdisziplinarität an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
Das interdisziplinäre Forschen, Lehren und Lernen spielt an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit eine wichtige Rolle, insbesondere bei Themen wie Alter, Beeinträchtigung und Lebensqualität, Bildung, Gesundheit und Prävention, Kindes- und Erwachsenenschutz, Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung sowie Sozialmanagement und Sozialpolitik. Für departementsübergreifende Projekte mit Beteiligung der Sozialen Arbeit sei zusätzlich auf die interdisziplinären Themencluster (ITC) der Hochschule verwiesen.
Mehr zum Thema unter: hslu.ch/sa-interdisziplinaritaet