Livia Barmettler
Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt. Nichtsdestotrotz war 2018 mehr als eine Viertelmillion Menschen auf Sozialhilfe angewiesen – eine Zahl, die laut der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) bis 2022 noch markant ansteigen könnte. Es befinden sich derzeit viele Personen in schwierigen Lebenslagen. Dennoch fällt der Gang aufs Sozialamt vielen schwer, auch weil er mit dem Verlust von Privatsphäre einhergeht. Denn wer Hilfe in Anspruch nimmt, muss dem Staat vollumfänglich Einblick in die persönlichen Lebensumstände gewähren – von Lohnabrechnungen über Mietverträge bis hin zu familiären Verhältnissen.
Perspektivenwechsel
Cornelia Lorenz, die seit mehreren Jahren als Sozialarbeiterin in verschiedenen Sozialdiensten tätig ist, will diesen Personen eine Stimme verleihen. In ihrer MAS-Arbeit «‹Hilfe, ich muss zum Sozialamt!› – Wie erleben Betroffene das Aufnahmeverfahren?» wagt die ehemalige Fachverantwortliche Intake der Sozialdienste Kriens einen Seitenwechsel und analysiert das dortige Aufnahmeverfahren aus Sicht der Betroffenen. Wie erleben die Antragsstellenden die Anforderungen und die Interaktionen mit den Sozialarbeitenden?
Fast 60 Personen, die 2019 in Kriens Sozialhilfe beantragten, gaben an, wie sie den Erstkontakt empfanden, die Beratungsgespräche, die Beschaffung aller anspruchs-relevanten Unterlagen, aber auch die Strukturqualität der Behörde. Denn auch die Flexibilität der Öffnungszeiten und selbst die Gestaltung der Räumlichkeiten – man denke an Diskretions- und Rückzugsmöglichkeiten – können für den Hilfeprozess von grosser Bedeutung sein.
Motiviert, engagiert und kompetent
Die Befragten stellten den Sozialdiensten Kriens ein gutes Zeugnis aus: Sie verfügen über die wichtigste Ressource – engagierte und fachlich kompetente Mitarbeitende. Die Befragten achteten die wertschätzende Haltung der Professionellen, die Qualität der Beratung und die Kommunikationsfähigkeiten, die die Beantwortung der intimen Fragen erleichterten und die Betroffenen letztlich auch im fortwährenden Gefühlschaos zwischen Scham und Hoffnung abholten. Auch die Bereitschaft, sich täglich auf neue und individuell unterschiedliche Schicksale einzulassen, wurde wahrgenommen.
So schreibt eine Person:
«Ich kam mir sehr gut aufgehoben vor – trotz der sehr privaten Fragen haben Sie mir nicht das Gefühl gegeben, ein Mensch zweiter Klasse zu sein.»
To-Dos
Kritische Rückmeldungen gab es bezüglich der Wartezeiten. Fast die Hälfte der Befragten musste aus ihrer Sicht lange auf das Erstgespräch warten. Auch die Autorin hält ein zeitnahes Erstgespräch für wichtig und plädiert dafür, dass diesbezüglich ausreichende Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Ausserdem empfehle sich eine aktivere Öffentlichkeitsarbeit, damit sich die Betroffenen bereits bei anbahnenden Problemen meldeten und nicht erst bei akuten Notlagen.
Weiter sei zur qualitativen Sicherung und Weiterentwicklung des Aufnahmeverfahrens Methodenkompetenz notwendig sowie vor allem ein vertieftes Wissen in sozialhilfe- und sozialversicherungsrechtlichen Fragen. Die Arbeit schliesst mit der Anregung, dass die Sozialdienste die Klientinnen und Klienten auch künftig durch Befragungen einbeziehen. So könne gemeinsam an einem Aufnahmeverfahren gefeilt werden, das Betroffene ohne Schamgefühl nutzen und den Sozialarbeitenden ermöglicht, ihrem paradoxen Doppelmandat zwischen Kontrolle und Hilfe nachzukommen.
Weitere Informationen zur Arbeit
Die Master-Arbeit von Cornelia
Lorenz HIER heruntergeladen werden.