Aufzeichnung: Eva Schümperli-Keller
Chris Stocker hatte einen gut bezahlten Manager-Job bei einer Grossbank, als er sich mit fünfzig beruflich komplett neu orientierte. Heute leitet er das Haus «Zueflucht» in Zürich, eine betreute Wohngemeinschaft für Menschen am Rand der Gesellschaft, und studiert berufsbegleitend Sozialpädagogik an der Hochschule Luzern. Eine Konstante gibt es in seiner Berufslaufbahn: die Rolle als Vermittler.
«Ein typischer Arbeitsalltag? Den gibt es bei uns im Haus ‹Zueflucht› im Zürcher Kreis 5 nicht. Vor allem am Montag und Donnerstag passiert viel Unvorhergesehenes: Dann ist das Haus offen für Tagesgäste, die bei uns duschen, essen oder ihre Kleider waschen. Manche suchen aber auch sozialarbeiterische Unterstützung, etwa beim Briefverkehr mit den Behörden, oder einfach jemanden, der ihnen zuhört. Die 22 Personen, die fix im Haus leben, bilden eine WG auf fünf Stockwerken. Den Ausdruck ‹Randständige› empfinde ich als stigmatisierend und spreche von ihnen lieber als ‹Menschen in spektakulären Lebenssituationen›. Grundsätzlich handelt es sich dabei um Personen, die mit dem selbstständigen Wohnen überfordert sind und vom Sozialamt an uns verwiesen werden. Einige konsumieren Drogen, was wir im eigenen Zimmer erlauben. Das Dealen hingegen ist im Haus verboten; wer sich nicht daran hält, muss ausziehen. Die ‹Zueflucht› wird von der Franziskanischen Gassenarbeit nach christlichen Werten betrieben. Ich selbst bin konfessionslos, aber nicht ungläubig.
Früher wurde der Betrieb der ‹Zueflucht› durch Spenden finanziert. Als Leiter war eines meiner ersten Ziele, das Haus finanziell unabhängig zu machen. Seit 2019 finanziert es sich aus eigenen Leistungen, aus Mietzahlungen und Betreuungszulagen von IV oder Sozialamt. Spenden kommen direkt Projekten wie ‹Hunger› (Essen für Menschen in Not), unserer Imkerei oder dem ‹Garten Eden›, den wir nach den Grundsätzen der Permakultur mit den Bewohnerinnen und Bewohnern betreiben, zugute.
Meine Arbeit teilt sich auf in circa fünfzig Prozent Soziale Arbeit und fünfzig Prozent Management-Aufgaben zum Führen des Hauses. Betriebswirtschaft, Projektmanagement, Personalführung: Dieses Wissen habe ich aus meiner früheren Karriere mitgebracht. Nach Abschluss einer technischen Lehre fand ich den Weg in die IT-Branche, wo ich viele Jahre diverse Management-Positionen innehatte, zuletzt bei einer Grossbank, bei der ich Millionenprojekte verantwortete. Irgendwann füllte mich diese Arbeit aber nicht mehr aus. Ich überlegte mir: Was habe ich am liebsten gemacht? Die Antwort war: mit Menschen zusammengearbeitet. So kam ich auf den Sozialbereich. Ich lernte den ehemaligen Franziskanermönch und heutigen Kollegen Benno Kehl kennen. Er hat die ‹Zueflucht› aufgebaut und lud mich dorthin zum Essen und Reden ein. Innert zwei Stunden entschied ich, per sofort nebenberuflich mitzuarbeiten. Dies fühlte sich so richtig an, dass ich bald darauf meine Stelle bei der Bank kündigte. Für den administrativen Teil meiner neuen Stelle war ich also prima ausgebildet, mir fehlte jedoch die sozialarbeiterische Ausbildung. Ich war fünfzig Jahre alt, hatte eine Familie mit zwei schulpflichtigen Buben und finanzielle Verpflichtungen. Das berufsbegleitende Studium an der Hochschule Luzern passte deshalb perfekt für mich. Nun schliesse ich das Studium bald ab; momentan schreibe ich an meiner Bachelor-Arbeit zum Thema Obdachlosigkeit in der Stadt Zürich. Dafür lebte ich eine Woche lang auf der Strasse und lernte die Lebenswelt der betroffenen Menschen besser kennen. Ich wollte ihnen eine Stimme geben, Schwellen und Hürden von Hilfsangeboten aufzeigen und das Potenzial für weitere Projekte erkennen.
Die Rolle des Vermittlers liegt mir; ich finde mich in dieser immer wieder. In meinem früheren Berufsleben vermittelte ich zwischen den ‹Nerds› im Unternehmen und dem CEO, heute zwischen unseren Bewohnenden und den Sozialbehörden, Ärzten oder Psychologinnen, zu denen ich sie begleite. Als ‹Macher› setze ich gerne Projekte um und habe dabei bemerkt, dass viele Menschen helfen möchten, aber nicht selber die Initiative ergreifen wollen. Es braucht jemanden, der das Ganze anreisst und koordiniert. In dieser Funktion fühle ich mich wohl. Nach Abschluss meines Studiums möchte ich weiter in der niederschwelligen Suchthilfe tätig sein und spannende und herausfordernde Vorhaben umsetzen – gerne auch über meine Pensionierung hinaus.»
Bachelor in Sozialer Arbeit, berufsbegleitendes Studium
Das Bachelor-Studium vermittelt das Basiswissen für alle Bereiche der Sozialen Arbeit und fokussiert dann auf eine der drei Studienrichtungen Sozialarbeit, Soziokultur oder Sozialpädagogik. Wer bereits in einer von der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit anerkannten Organisation der gewählten Studienrichtung tätig ist oder einen entsprechenden Arbeitsplatz in Aussicht hat, kann die Ausbildung berufsbegleitend absolvieren.
Weitere Informationen: hslu.ch/bachelor-sozialearbeit