Interview: Anette Eldevik
Andreas Pfister, die Pandemie zeigt es einmal mehr: Die Gesundheit der Bevölkerung ist ein äusserst hohes Gut. Von welchen Faktoren hängt unsere Gesundheit ab?
Individuelle, soziale und gesellschaftliche Faktoren wirken auf unsere Gesundheit ein. Das alleinige Appellieren an die Eigenverantwortung ist deshalb nicht zweckmässig, auch in Corona-Zeiten nicht.
Ob wir Menschen gesund sind und uns «gesund» verhalten, ist nicht einfach eine individuelle Entscheidung, sondern hängt von unserer Ressourcenausstattung und von gesellschaftlichen Umständen ab. Unter anderem ist der sozioökonomische Status einer Person entscheidend. Die Weltgesundheitsorganisation WHO verlangt deshalb schon länger, die Gesundheit der Bevölkerung mittels aller Politikfelder zu stärken («Health in All Policies»).
Haben privilegierte Menschen somit bessere Chancen, gesund zu bleiben?
Ja, grundsätzlich schon. In der Wissenschaft spricht man vom «sozialen Gradient der Gesundheit». Über die ganze Bevölkerung betrachtet verfügen Menschen mit der besten Ressourcenausstattung punkto Bildung, Beruf und Einkommen über die beste Gesundheit.
Zum Schutz der Gesundheit gehört auch die Suchtprävention. Im Rahmen eines SNF-Projekts haben Sie zusammen mit Nikola Koschmieder und Sabrina Wyss untersucht, weshalb der Zugang zu suchtpräventiven Angeboten für armutsgefährdete Familien oftmals erschwert ist. Warum hat Sie diese Zielgruppe besonders interessiert?
Sozioökonomisch benachteiligte Familien sind nicht nur hinsichtlich Einkommen, Berufsstatus und Bildung benachteiligt. Aus der Forschung wissen wir, dass Kinder in diesen Familien statistisch gesehen auch ein höheres Risiko aufweisen, einen problematischen Umgang mit Substanzen zu entwickeln. Gerade diese Familien mit hohem Bedarf an Prävention und Gesundheitsförderung werden aber von den Fachstellen oftmals nur unzureichend erreicht. Wir untersuchten daher in der SNF-Studie, was eigentlich die genauen Gründe und Prozesse in der Lebenswelt dieser Familien sind, die eine Inanspruchnahme von familienbezogenen suchtpräventiven Angeboten erschweren.
Welches sind Ihre Haupterkenntnisse?
Alle Befragten lebten unter der Armutgefährdungsschwelle; ihr Alltag war von finanziellen Sorgen und oftmals von weiteren Problemen geprägt. Trotzdem sind sozioökonomisch benachteiligte Familien keine homogene Gruppe. Die Ressourcenlage der Familien und die Art und Weise, wie sie Probleme im Alltag erkennen und bewältigen, sind zum einen unterschiedlich, zum anderen strukturieren diese den Zugang zu (sucht-)präventiven Angeboten; dies ist die Haupterkenntnis.
Es gibt z. B. Familien, die ihre Situation als existenziell ausweglos erleben und jeden Rappen umdrehen müssen. Für andere Familien ist der stark belastete Alltag mittlerweile Normalität – Probleme werden «normalisiert» und häufig gar nicht als solche erkannt. Für beide Familientypen ist es aufgrund ihrer Situation und der Art der Problembearbeitung schwierig, den Anschluss an Hilfsangebote zu finden.
Einige der befragten Familien verfügten über etwas mehr Geld, Bildung und einen sicheren Aufenthaltsstatus. Diese erkannten und bearbeiteten Themen und Probleme im Alltag auf pragmatische Weise; jedoch meist innerhalb der Familie. Einzig eine vierte Gruppe – mit der insgesamt besten Ressourcenausstattung – zeigte eine relativ gute Passung zu bestehenden Angeboten familienbezogener Suchtprävention und streckte fortwährend die Fühler nach entsprechenden Hilfen aus.
Zu den Beteiligten zählten nicht nur die Erwachsenen, sondern auch deren Kinder. Warum richteten Sie Ihr Augenmerk vor allem auf die Zehn- bis Vierzehn- jährigen?
Weil dieses Alter einem wichtigen Übergang und Fenster für das Gesundheitsverhalten entspricht. Wie sich die Kinder in Bezug auf Substanzen entscheiden, wird zwar im Jugendalter immer mehr unter Gleichaltrigen verhandelt, die Eltern bleiben aber eine wichtige Sozialisationsinstanz und Bezugsgrösse. Familienbezogene Angebote der Suchtprävention richten sich deshalb frühzeitig an die Eltern, um diese hinsichtlich Substanzkonsum im Jugendalter zu sensibilisieren und zu stärken.
Da diese Publikation dem Schwerpunkt Jugendliche gewidmet ist: Kann man junge Menschen vor Substanzkonsum schützen?
Per se leider nicht, auch wenn dieser Wunsch gut nachzuvollziehen ist. Auch reine Verbote nützen nichts. Am wirksamsten ist eine Kombination aus verhältnis- und verhaltensbezogenen Zugängen. Mit verhältnisbezogenen Strategien sind etwa gesundheitsförderliche Strukturen in der Schule oder konkrete Schutzmassnahmen gemeint, z. B. Jugendschutz beim Tabak- und Alkoholkauf. Verhaltensbezogene Zugänge zielen auf die Stärkung von Erziehungs- und Lebenskompetenzen ab, damit dysfunktionale Bewältigungsstrategien und problematischer Konsum gar nicht erst entstehen.
Zurück zu Ihrer Studie und zur Zugänglichkeit der Angebote: Welche Empfehlungen haben Sie?
Eine grundlegende Verbesserung der Lage dieser Familien würde nicht nur ihre sozioökonomische Situation, sondern auch ihre Gesundheitschancen stärken. Die Familien hätten dann auch eine bessere Ausgangslage für den Zugang zur Prävention. Armutsbekämpfung ist deshalb zentral. Verbesserungen müssen in allen Politikfeldern unternommen werden, wie es die WHO empfiehlt.
Viele Fachstellen und Behörden haben aber meist nicht unmittelbar auf allgemeine gesellschaftliche Faktoren Einfluss. Was können sie tun?
Präventionsstellen und auch die Soziale Arbeit haben in der Umsetzung vor Ort, in den Kantonen und Gemeinden Einfluss. Und hier könnte man direkt an die Erkenntnisse unserer Studie anknüpfen. Da die sozioökonomisch benachteiligten Familien, wie wir gesehen haben, nicht homogen sind, müssen verschiedene Strategien angewendet werden. Am besten wäre es etwa, wenn die beiden besonders ressourcenschwachen Gruppen präventive Unterstützungsangebote direkt in den Settings der Sozialen Sicherung erhielten, wo sie sich sowieso aufhalten und finanziell und sozial beraten würden – sei es auf dem Sozialamt, bei der Arbeitslosenstelle oder der Migrationsbehörde.
Zudem: Die oftmals noch vorhandene Trennung zwischen Problembehandlung und Vorbeugung ist nicht funktional. Die Strukturen müssen verändert, die intersektorale und interprofessionelle Zusammenarbeit muss gestärkt werden. Das Sozial- und Gesundheitswesen muss auch insgesamt näher zusammenrücken, um sozioökonomisch benachteiligte Gruppen sozial wie gesundheitlich besserzustellen. Dafür werde ich mich in den nächsten Jahren einsetzen. Die Erkenntnisse der Studie sollen in die Aus- und Weiterbildung einfliessen. Zudem arbeiten wir mit Praxisfachpersonen an einem Buch, um die Umsetzung in der Praxis und den Organisationen zu erleichtern.
SNF-Studie «Erschwerte Inanspruchnahme suchtpräventiver Angebote durch sozioökonomisch benachteiligte Eltern und Familien mit (prä-)adoleszenten Kindern»
Die qualitative Studie wurde 2017 bis 2020 von Andreas Pfister (Leitung), Nikola Koschmieder und Sabrina Wyss, Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, durchgeführt und vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert. Mit direktem Bezug auf die Lebenswelt sozioökonomisch benachteiligter Familien zeigt sie auf, wie es zu erschwerter Inanspruchnahme von Suchtprävention kommt.
Zentrale Schlussfolgerung:
Die Zugangsstrategien von Präventionsangeboten müssen differenziert werden, insbesondere gilt es, die Trennung von Problembehandlung und Prävention aufzuheben und die intersektorale Zusammenarbeit der Sozial- und Gesundheitsbehörden zu verbessern. Die Ergebnisse wurden international und «open access» für alle frei zugänglich veröffentlicht.
Weitere Informationen
Andreas Pfister war bis 2022 an der HSLU Dozent und Projektleiter und führte die Studie zusammen mit den wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Nikola Koschmieder und Sabrina Wyss durch.