Livia Barmettler
Im Sommer 2019 erfuhren Andrea Widmer und Roman Donà das erste Mal von der «Young Carer»-Problematik. Sie stellten fest: Obwohl es sich um ein globales Phänomen handelt, ist das Bewusstsein für das Thema gering. Betrachtet man die europäischen Verhältnisse, findet die Thematik in Deutschland, Österreich und der Schweiz weder im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich noch in der Öffentlichkeit ausreichend Beachtung. Einzig in Grossbritannien existiert bereits ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür.
Mit ihrer Bachelor-Arbeit «Young Carer – Wenn Kinder und Jugendliche Aussergewöhnliches leisten und eine Lücke im Helfersystem schliessen» wollen sie die Problematik sichtbarer machen. Im Fokus ihrer Arbeit stehen mögliche Spätfolgen im Erwachsenenalter ehemaliger «Young Carer». Die gewonnenen Erkenntnisse sollen Empfehlungen für weiterführende Forschung darlegen und den Handlungs- bedarf in der Sozialen Arbeit aufzeigen.
Viel Verantwortung und Verzicht
Um einen Dialog zu stärken, ist ein einheitliches Begriffsverständnis essenziell. Die Autorschaft klärt zuerst den Terminus «Kindheit» und wagt anschliessend eine definitorische Annäherung an den Begriff «Young Carer». Dabei entsteht folgendes Bild: ein Mensch unter 18 Jahren, der sich dazu verpflichtet fühlt, eine angehörige Person über einen längeren Zeitraum zu unterstützen. Diese leidet an einer chronischen Krankheit, sei es physischer, psychischer oder altersbedingter Natur. Das Spektrum an Aufgaben, die die Minderjährigen übernehmen, reicht von der Unterstützung beim Treppensteigen über das Injizieren von Spritzen bis hin zur Hilfe bei Körper- und Intimpflege.
Mit steigendem Hilfebedarf wandeln sich die gelegentlichen Einsätze unter Umständen zu einer alleinverantwortlichen Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Eine Vernachlässigung der eigenen Interessen und der Kontakte zu Gleichaltrigen ist vorprogrammiert. Was macht das mit den Minderjährigen? Wie äussern sich allfällige Spätfolgen im Erwachsenenalter? Und was kann Soziale Arbeit bewirken?
Verinnerlichung der Rolle und weitere Folgen
Um diese Fragestellungen zu erforschen, wurden fünf ehemalige «Young Carer» qualitativ befragt. Es lassen sich sowohl negative wie auch positive Spätfolgen feststellen. Auch wenn die Befragten den Übergang von der Schulzeit in den Berufsalltag mühelos geschafft haben und heute mitten im Leben stehen, kämpfen sie teilweise mit Verlust- und Existenzängsten. Sie führen dies auf die anhaltende Belastungssituation in jungen Jahren zurück. Ausserdem fällt den Befragten eine Verinnerlichung der «Young-Carer»-Rolle auf: Sie tendieren dazu, nur ungern fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Eine weitere Charaktereigenschaft, die sich die Befragten zuschreiben, ist Stressresistenz. Zudem entwickelten sie durch die Erfahrungen eine frühe Reife sowie eine hohe Sozialkompetenz. Letztere widerspiegelt sich nicht zuletzt auch in ihrer Berufswahl: Vier von fünf wählten eine Arbeit im sozialen, pflegerischen oder soziologischen Feld.
Ich wünscht’, ich hätt’...
Gestützt auf die Interviews arbeitete die Autorschaft konkrete Punkte heraus, wo und wie die Soziale Arbeit präventiv intervenieren kann. Die Befragungen zeigen, wie wichtig eine Ansprechperson gewesen wäre, mit denen die Betroffenen ihre Ängste hätten teilen können. Des Weiteren gaben die Befragten an, dass eine bessere Aufklärung über die Krankheit der/des Angehörigen ihnen in jungen Jahren einiges an Angst und Schuldgefühlen erspart hätte. Die Forschungsarbeit dient als Grundlage, um diese Konjunktive nun anzupacken.
Weitere Informationen: DOI 10.5281/zenodo.4046309