Mirjam Wishart-Aregger
Sie sortieren Ersatzteile in der Velowerkstatt, pflegen Parkanlagen oder helfen in Restaurantküchen aus: Sozialhilfebeziehende sind in der Schweiz in verschiedenen Beschäftigungsprogrammen der Kantone tätig. Unter welchen rechtlichen und praktischen Bedingungen wird gearbeitet? Dieser Frage geht ein gemeinsames Forschungsprojekt der Universität Basel und der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit nach, das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert wird. Die Studie zeigt: Die Grundlagen für die Einsätze sind oft vage, unterscheiden sich je nach Kanton stark und bewegen sich in einem rechtlichen Graubereich.
Grundrechtlich problematisch
«Problematisch ist, wenn Beschäftigungsprogramme als Voraussetzung für Sozialhilfe deklariert werden», sagt Gesine Fuchs von der Hochschule Luzern, Co-Autorin der Studie. Weigert sich jemand, einen Einsatz anzunehmen, kann es sein, dass der Anspruch auf Sozial- und eventuell auch auf Nothilfe wegfällt – und damit das letzte finanzielle Auffangnetz. Gesine Fuchs: «Das Recht auf Hilfe in Notlagen wird ausgehebelt. Das ist grundrechtlich problematisch.»
Oft ist unklar, ob und wann eine Teilnahme verweigert werden darf. Aus gesundheitlichen Gründen, infolge Betreuungsaufgaben oder wegen anderen Faktoren? Ungewiss ist auch die Rechtsposition der Betroffenen: Die Einsätze unterstehen regelmässig nicht den arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften und die «Einkommen» sind nicht sozialversichert. Die Betroffenen sind zudem in einem Dreiecksverhältnis sowohl dem Sozialdienst wie dem Einsatzbetrieb unterstellt. «Wir haben es mit einer undurchsichtigen Situation zu tun und verlässliche Zahlen auf gesamtschweizerischer Ebene gibt es nicht», sagt Gesine Fuchs.
Deshalb hat das Forschungsteam eine umfangreiche Datenerhebung durchgeführt und Methoden aus der Sozial- und Rechtswissenschaft kombiniert. Rechtsgrundlagen des Bundes und der Kantone sowie völkerrechtliche Vorgaben wurden analysiert, eine Umfrage bei kantonalen Sozialämtern durchgeführt und in ausgewählten Kantonen wurden Sozialdienste, Klientinnen und Klienten sowie Programmverantwortliche interviewt.
Lehre statt Sozialhilfe
Die Auswertung zeigt: Beschäftigungsprogramme können eine Tagesstruktur, Anerkennung und soziale Integration bieten. Doch wird bei der jetzigen Praxis die disziplinierende Wirkung gegenüber einer tatsächlichen Reintegration begünstigt. Zudem hilft sie auch kaum in Bezug auf einen beruflichen Wiedereinstieg. «Viele Sozialhilfebeziehende verfügen nicht über die Qualifikationen, um im Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen. Sie brauchen keine Beschäftigung, sondern eine Aus- oder Weiterbildung», so Fuchs. Einzelne Kantone machen es bereits vor: Etwa das Programm FORJAD des Kantons Waadt mit Stipendien und Lehren für junge Erwachsene oder ENTER in Basel, das sich für einen Berufsabschluss von Erwachsenen einsetzt.
Anpassungen sind dringend nötig, gerade mit Blick auf die Corona-Krise. «Möglicherweise werden vermehrt sogar gut qualifizierte Fachkräfte, insbesondere Selbstständige, auf Sozialhilfe angewiesen sein. Hier sind Beschäftigungsprogramme definitiv nicht das richtige Mittel. Man muss in die Menschen investieren, womöglich mit neuen und unkonventionellen Ansätzen», sagt Gesine Fuchs.
Das Projektteam hat drei Empfehlungen erarbeitet: Es sollen allgemein geltende Mindeststandards eingeführt werden. Die Teilnahme an Einsätzen darf keine Voraussetzung für den Anspruch auf Sozial- und Nothilfe sein. Sie ist zudem mit einem Arbeitsvertrag zu regeln und der Lohn ist den Sozialversicherungen zu unterstellen. Schliesslich braucht es Evaluationen, um die Angebote zu steuern und ihre Wirkung zu messen. Diese Vorschläge wurden einem breiten Fachpublikum des Sozialwesens vorgestellt (siehe Projektwebseite im Kasten).
Gleichstellung in der Arbeitslosenpolitik
Ein weiteres Forschungsprojekt von Gesine Fuchs und Lucia M. Lanfranconi nimmt die Gleichstellung in der Arbeitslosenpolitik unter die Lupe. Es geht unter
anderem der Frage nach, ob Frauen nicht nur im Arbeitsleben, sondern auch in der Arbeitslosigkeit benachteiligt sind. In einer Fallstudie wurde die Situation auf der rechtlich-nationalen Ebene (Makro), auf der institutionell-kantonalen Ebene (Meso) und auf der individuellen Ebene der Beratung (Mikro) untersucht.
«Die Arbeitslosenversicherung ist explizit geschlechtsneutral reguliert», sagt Gesine Fuchs. Eines der Probleme: Der Umgang mit Mutterschaft und Betreuungsverpflichtungen von Arbeitslosen wird ausgeklammert und an die RAV-Beratenden delegiert. Wie diese damit umgehen, unterscheidet sich stark. Zum Beispiel darf einer nationalen Weisung zufolge offiziell nicht von vornherein eine sogenannte Kinder-Obhutsbestätigung von arbeitslosen Eltern verlangt werden, um ihre Vermittlungsfähigkeit zu überprüfen und damit ihr Anrecht auf Taggelder in der Arbeitslosenversicherung. In der Fallstudie wurde eine solche de facto aber nur von Müttern, nie von Vätern gefordert.
In den Kantonen wären arbeitsmarktliche Angebote zu Randzeiten sowie Ansprüche auf subventionierte Kinderbetreuung wichtig zur Unterstützung arbeitsloser Mütter. Für die Beratung könnte eine stärkere Verbreitung sozialarbeiterischer und gender- sensibler Methoden helfen, um geschlechterspezifische Unterschiede zu erkennen und zu thematisieren. Gesine Fuchs: «Schliesslich kann man Ungleichheit nicht bekämpfen, indem man darüber schweigt.»
Forschungsprojekte zum Schutz vulnerabler Gruppen
- Arbeitsverhältnisse unter sozialhilferechtlichen Bedingungen: Rechtlicher Rahmen, Verbreitung und Regulierung(-slücken): https://bit.ly/2DcJ9rk
Der Schlussbericht ist in Deutsch, Französisch und Englisch verfügbar.
«Versorgungssysteme im Sozialstaat gestalten» – Das Master Studium in Sozialer Arbeit
Wie geht es den Nutzer*innen von Angeboten der Sozialen Arbeit? Wie kann deren Perspektive in die Gestaltung des Angebots einfliessen?
Diese Frage stellt das Modul von Dozentin Gesine Fuchs im Master in Sozialer Arbeit. Das Modul ist Teil des Luzerner Themenschwerpunkts «Versorgungssysteme im Sozialstaat gestalten» und ist eine Wahl für die individuelle Profilschärfung. Das Master-Studium ermöglicht Fachleuten aus der Sozialen Arbeit eine optimale Positionierung für anspruchsvolle Aufgaben in Praxis, Forschung sowie Lehre und eröffnet neue berufliche Aussichten. Der Master in Sozialer Arbeit ist eine Kooperation der Fachhochschulen Bern, Luzern und St. Gallen.
Weitere Informationen gibt es HIER.