Interview: Saverio Genzoli
Claudia Meier Magistretti, die Geburt wird im Allgemeinen als gesunde, normale Lebenserfahrung dargestellt. Teilen Sie das Bild, das uns hier vermittelt wird?
Ja, der überwiegende Teil aller Geburten verläuft ohne Komplikationen. In den seltenen Fällen, in denen tatsächlich Schwierigkeiten auftreten, ist die Versorgung in der Schweiz sehr gut. Vielleicht sogar zu gut.
Wie meinen Sie das?
Im Zuge des Trends, sämtliche Risiken abzusichern, haben viele Frauen das Vertrauen in ihre eigene Fähigkeit, ein Kind zu gebären, verloren. Das hat auch mit der sogenannten «Medikalisierung» der Geburt zu tun. Geburten werden als «Krankheiten» betrachtet – im Versicherungsjargon heissen sie «Schadenfall 2». Damit geht einher, dass bei der Geburt nach wie vor technische Hilfen eingesetzt werden, die gar nicht nötig wären. Die Geburt gilt als Ereignis, das medizinisch-technisch kontrolliert und gemanagt werden muss. Das entspricht weder der Erfahrung noch den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Es entsteht daraus aber eine Erwartungshaltung, die auch schwierig sein kann.
Wie sieht diese Erwartungshaltung aus?
Etliche Fachpersonen – aber auch zunehmend die Frauen selber – haben die Erwartung an die Medizin, dass für die Frauen alles geregelt werden muss. Etwas überspitzt gesagt: Eine Behandlung beim Zahnarzt tut nicht weh, dann soll eine Geburt auch keine Schmerzen bereiten. Das Vertrauen in die Technik und in die medizinischen Prozesse ist sehr hoch und es entsteht der Eindruck, alles im Griff zu haben. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch sinnvoll, wenn dadurch übertriebene Ängste bei schwangeren Frauen vermieden werden.
Welche Schwierigkeiten ergeben sich daraus?
Auch wenn die Medizin auf einem sehr hohen Stand ist, können unvorhergesehene und unlösbare Situationen nie ausgeschlossen werden. Jede Geburt ist ein natürlicher Prozess und kann nicht beliebig reguliert werden. In der Schweiz geschehen jeden Tag eine bis zwei Totgeburten – viele davon haben keine medizinische Erklärung. Auf diese Eventualität werden angehende Eltern nicht adäquat vorbereitet. Das ist problematisch.
In Ihrer Studie haben Sie Mütter befragt, die eine Totgeburt erlebt haben. War die falsche Erwartungshaltung bei den Gesprächen auch ein Thema?
Ja, das hat sich bei den Befragungen sehr eindrücklich gezeigt. Fast alle befragten Mütter berichteten, dass sie mit der Situation besser zurechtgekommen wären, wenn sie vorher gewusst hätten, dass so etwas geschehen kann. In ihren Köpfen war verankert: Nach den ersten drei Schwangerschaftsmonaten hat die Medizin alles im Griff. Ab dann kann nichts mehr passieren. Über die Möglichkeit einer Totgeburt wird bei der Schwangerschafts- oder Geburtsvorbereitung kaum geredet.
Welche Folgen hat die Tabuisierung von Totgeburten für die Betroffenen?
Die Tabuisierung trägt dazu bei, dass die Abläufe in den Spitälern zu wenig auf die Bedürfnisse der betroffenen Eltern ausgerichtet sind. Weil nicht alle Fachpersonen ausreichend für solche Situationen ausgebildet werden, reagieren sie zuweilen hilflos. Dasselbe Phänomen stellen wir auch im direkten Umfeld der Betroffenen fest. Freundinnen, Vorgesetzte, Arbeitskollegen oder Angehörige sind mit der Situation oft überfordert und wissen nicht, wie sie mit den betroffenen Eltern interagieren sollen.
Wie haben die befragten Eltern diese Situationen beschrieben?
Im privaten Umfeld ist es oft so, dass viele gut gemeinte Reaktionen verletzend sein können. Versuche, die Betroffenen mit Aussagen wie «Du bist ja noch jung und kannst nochmals schwanger werden» oder «Das hat sicher einen tieferen Sinn in deinem Leben»
zu trösten, sind Beispiele dafür. Manchmal passiert genau das Gegenteil. Freundinnen und Kollegen beginnen, die betroffenen Eltern übertrieben zu schonen, sie gehen ihnen aus dem Weg oder Freundinnen verschweigen, dass sie selber ein Kind erwarten. Einige befragte Mütter haben erzählt, dass deshalb auch Freundschaften zerbrochen sind.
Von welchen Erlebnissen mit Fachpersonen haben sie berichtet?
Einzelne Frauen haben erzählt, sie hätten die Diagnose, ihr ungeborenes Kind sei gestorben, per Telefon erhalten oder in einer Runde von Fachpersonen, in der sie niemanden kannten. Alle Interviewpartnerinnen wurden nach der Diagnose allein gelassen und waren mit ihren Fragen, die fast immer erst nach den Gesprächen auftauchten, auf sich alleine gestellt. Besonders einschneidend für viele Frauen war es, wenn sie in Wartezimmern platziert wurden, in denen gleichzeitig Eltern mit ihren frischgeborenen Babys warteten. Weitere solche Beispiele gäbe es viele.
Was lösen solche Situationen bei den Eltern aus?
Ein perinataler Kindsverlust kann auf die Eltern und deren Familien schwerwiegende Auswirkungen haben. Im schlimmsten Fall entstehen posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen und weitere psychische Probleme, die manchmal viele Jahre anhalten und die Lebensqualität aller Beteiligten stark beeinträchtigen. In einer solchen Situation sind die Betroffenen auf ein starkes Umfeld und auf fachliche Unterstützung angewiesen. Hilflosigkeit im Umgang mit Totgeburten belastet die Betroffenen zusätzlich.
Wie können die betroffenen Eltern möglichst gut unterstützt werden?
Zuerst geht es einmal darum, die Bedürfnisse der Eltern abzuholen. Nicht alle Menschen gehen mit einem solchen Erlebnis gleich um. In allen unseren Gesprächen kam aber zum Ausdruck, dass Eltern eine kontinuierliche Bezugsbegleitung wünschten: eine Vertrauenshebamme, einen Bezugsarzt oder auch ein Team von Personen, die sie in der Zeit von der Diagnose bis nach dem Wochenbett betreuen würden. Zudem haben wir bei den Gesprächen festgestellt, dass die Betroffenen durch fehlende Kommunikation und inadäquate Abläufe teilweise daran gehindert werden, mit der Situation auf ihre Art klarzukommen.
Wie meinen Sie das?
Viele Fachpersonen – aber auch viele Eltern selbst – haben eine ganz konkrete Vorstellung, wie «richtiges» Trauern funktionieren soll. Es wird dann mit populären Trauermodellen gearbeitet, die in der Realität aber nur selten zutreffen. Bei der Trauerbewältigung ist es wichtig, Menschen nicht nach fixen Schemata zu behandeln. Es muss berücksichtigt werden, dass Trauerprozesse sehr individuell sind, unterschiedlich lange dauern und in wechselnden Rhythmen von Trauer, Ablenkung und «Normalität» verlaufen.
Sie haben die lückenhafte Kommunikation angesprochen. Wie manifestiert sich das?
Die Kommunikation der Fachpersonen untereinander und gegenüber den Eltern ist ein ganz entscheidender Faktor. Im Rahmen der Befragung wurde uns beispielsweise erzählt, dass medizinische Fachpersonen die Mutter, die eine Totgeburt erlebt hatte, bei ambulanten Nachkontrollen fragten, wie es ihrem Baby gehe. Offensichtlich hatten sie die Krankenakte nicht
richtig gelesen. Solche Situationen liessen sich mit einfachen Massnahmen verhindern.
Wie zum Beispiel?
In einigen Spitälern werden Symbole wie «der kleine Prinz» an Türen und auf Dokumenten angebracht. So wissen alle Fachpersonen selbst unter Zeitdruck über die Situation der Mutter Bescheid.
Wie haben die befragten Eltern die Unterstützung bei der Trauerbewältigung erlebt?
Betroffene Eltern erhalten bereits viele Elemente der benötigten Unterstützung. Etliche Paare berichteten, dass sie Raum und Zeit erhalten hatten, um mit ihrem toten Baby zusammen zu sein, es kennenzulernen und von ihm Abschied nehmen zu können. Die meisten befragten Eltern erhielten auch symbolische, rituelle und spirituelle Unterstützung, indem die Spitäler private Angebote wie «Herzensbilder» oder andere Vereine aktiv empfahlen und vermittelten. «Herzensbilder» beispielsweise ist ein Verein, der professionelle und schöne Erinnerungsfotos der verstorbenen Kinder macht.
Wo fühlten sich die Eltern alleine gelassen?
Die schwierigste Phase für viele Eltern beginnt nach der Diagnose – also dann, wenn die Mutter darauf wartet, ihr verstorbenes Baby zu gebären. Das ist in den meisten Fällen eine Zeit tiefster Trauer. In dieser Phase sind die Eltern auf sich alleine gestellt – obwohl genau dann eine enge Begleitung nach Bedarf bis hin zum Wochenbett für sie wichtig wäre.
Welche Institutionen sind besonders gefordert?
Das ist je nach Phase unterschiedlich. Bei der Diagnosestellung und bei der Geburt sind vor allem die medizinischen Einrichtungen – also Spitäler und Geburtskliniken – gefragt. In der Zeit nach dem Spitalaustritt braucht es Angebote, die eine psychosoziale Begleitung gewährleisten.
Was raten Sie Spitälern, um für betroffene Eltern bestmögliche Voraussetzungen schaffen zu können?
Die Spitäler können viel zur Verbesserung der Situation beitragen, indem sie in solchen Ausnahmefällen übliche Strukturen aufbrechen: beispielsweise die Besuchszeiten für Angehörige verlängern oder spezielle Räume einrichten, in denen die Eltern mit ihrem Kind zusammen sein können. Solche Details sind ganz wichtig und auch relativ einfach umsetzbar. Im Rahmen der Studie haben wir die Anliegen der Eltern gesammelt und synthetisiert. Interessant ist: Alle zusammengetragenen Leistungen können im Rahmen des geltenden Krankenversicherungsgesetzes in der Grundversicherung abgedeckt werden. Das haben Gespräche gezeigt, die wir mit Krankenversicherungen und dem Branchenverband geführt haben.
Welche Herausforderungen stellen sich bei der weiterführenden Unterstützung der Eltern nach dem Wochenbett?
Wenn die Mütter und Väter vom Spital nach Hause gehen, ist die umfassende Wochenbettbegleitung durch eine geschulte Hebamme zentral. Den Zugang zu einer weiterführenden Begleitung nach dem Wochenbett beschrieben uns die befragten Mütter als sehr anspruchsvoll: Es sei schwierig, spezialisierte psychologische Begleitung zu finden und es bestünden lange Wartezeiten. Auch Selbsthilfegruppen sind nicht in allen Regionen vorhanden. Für Mütter aus der Zentralschweiz zum Beispiel liegt das geografisch nächste Angebot im Kanton Aargau. Da bräuchte es ein Vermittlungs- und Informationssystem für Betroffene.
Wie könnte ein solches System aussehen?
Es gibt ein Spital in der Westschweiz, das dafür eine gute Lösung gefunden hat. Einmal in der Woche wird eine offene Sprechstunde angeboten. Da ist dann immer jemand verfügbar, um Fragen zu beantworten oder Hilfe zu vermitteln. Generell sehr wichtig ist in dieser kontinuierlichen Begleitphase die Zusammenarbeit zwischen den Fachpersonen – auch über die Institutionsgrenzen hinweg.
Welche Rolle kann dabei die Soziale Arbeit einnehmen?
Die Soziale Arbeit hat in diesem System einmal eine koordinative Funktion. Sie kann die Netzwerke schaffen, um die Betroffenen mit Fachpersonen zusammenzubringen und ihnen bei der Suche nach Unterstützung zu helfen. Zum anderen kann die Soziale Arbeit ihr Know-how zur Verfügung stellen, um die Eltern zu entlasten. Oft sind es ganz banale Fragestellungen, mit denen sich die Eltern auseinandersetzen müssen und die in dieser sowieso schon schwierigen Situation unnötig ermüdend sein können.
Was sind das für Fragestellungen?
Das können ganz allgemeine Fragen zum Arbeitsrecht oder zu Angelegenheiten mit der Versicherung sein. Hat eine Frau, die kurz vor der Geburt ihr Kind verloren hat, Anrecht auf Mutterschaftsurlaub? Wie ist es mit dem Anrecht des Vaters auf freie Tage? Alles Problemstellungen, mit denen sich Betroffene plötzlich konfrontiert sehen und die sie ohne Hilfe in dieser Extremsituation manchmal nicht meistern können.
Eine wichtige Funktion nimmt auch die Forschung ein. Was kann eine Studie wie die der Hochschule Luzern zur Sensibilisierung dieses Themas beitragen?
Mit dieser Studie machen wir das Thema sichtbar – einerseits bei der breiten Öffentlichkeit, andererseits aber auch in Fachkreisen. Eine Sensibilisierung kann nur gemeinsam mit allen Akteurinnen und Akteuren geschehen. Dazu gehören medizinische Einrichtungen, Fachpersonen, Psychologinnen, Theologen, Krankenkassen sowie Betroffene und deren Umfeld. Unsere Aufgabe sehen wir darin, diese Institutionen und Personen zusammenzubringen und Lösungen zu erarbeiten, die den Bedürfnissen der betroffenen Mütter und Väter entsprechen. Das ist uns mit dieser Studie zu einem guten Stück gelungen – und zwar nicht nur in der Deutschschweiz, sondern auch in den italienisch und französischsprachigen Landesteilen.
Wie können die Ergebnisse der Studie den Institutionen helfen, bestimmte Massnahmen umzusetzen?
Ein Teil der Studienergebnisse besteht aus konkreten Handlungsempfehlungen und Vorschlägen für Leitlinien, die von den entsprechenden Organisationen direkt angewendet werden können. Diese Handlungsempfehlungen wurden in Zusammenarbeit mit allen beteiligten Akteurinnen und Akteuren und betroffenen Personen erarbeitet: von medizinischen Institutionen über Theologinnen, Psychologen und Eltern bis hin zu den Krankenversicherungen.
Welche Hürden sehen Sie bei der Umsetzung dieser Handlungsempfehlungen?
Ich befürchte, die vermeintlich kleine Fallzahl wird nach wie vor eine Herausforderung bleiben. Wir sprechen von rund 600 Fällen im Jahr. Totgeburten sind ökonomisch betrachtet kein relevantes Gesundheitsthema und schon gar kein grosser Kostentreiber.
Was stimmt Sie optimistisch, dass dem Umgang mit Totgeburten in Zukunft mehr Beachtung geschenkt wird?
Trotz der tiefen Fallzahlen ist ein grosses Verständnis für die Wichtigkeit dieses Themas spürbar. Das haben die Gespräche mit den verschiedenen Akteurinnen und Akteuren im Rahmen unserer Studie gezeigt. Ein Vorteil wird auch sein, dass die meisten wichtigen Veränderungen innerhalb des bestehenden Finanzierungsrahmens umgesetzt werden können. Und durch unsere Studie gibt es jetzt ein Instrument, das den Einführungsprozess verkürzt. Da wird sich in absehbarer Zeit einiges tun. Davon bin ich überzeugt.