Interview: Janet Stojan
Was wünschen sich ältere Menschen gemeinhin von ihrem Umfeld – von wem möchten sie am liebsten unterstützt werden, wo möchten sie sein?
Gretler Heusser: Zunächst muss man Folgendes festhalten: In der Schweiz ist aktuell fast eine halbe Million Menschen über 80 Jahre alt, ihr Anteil wird vermutlich noch steigen. Diese Gruppe alter Menschen ist sehr heterogen. Die Lebenssituation variiert von Person zu Person – «das Alter» existiert nicht als einheitliches Phänomen. Nichtsdestotrotz geht der Trend klar zum Zuhausebleiben – so lang wie möglich. Und viele möchten auch zu Hause sterben. Die Institutionen passen sich dahingehend zunehmend an – es gelten heute der Grundsatz «ambulant vor stationär» und eine Kombination aus ambulanter und (teil-)stationärer Betreuung, die diesen Wünschen gerecht werden und ein langes Leben zu Hause ermöglichen.
Stremlow: Noch nie sind Generationen – in vielen Ländern – so alt geworden wie heute: Das löst natürlich hohe Anforderungen an das Umfeld aus. Es braucht immer mehr Personen, welche die Betreuung und Pflege der älteren Menschen übernehmen. Und der Wunsch, zu Hause zu leben und dort sterben zu können, löst hohe Ansprüche an die Familie aus.
Befinden sich viele Familien da nicht in einem Sandwich-Modus? Einerseits haben sie unter Umständen noch relativ kleine Kinder, auf der anderen Seite betreuungs- oder pflegebedürftige Angehörige. Wie sollen sie mit diesem Spannungsfeld umgehen?
Gretler Heusser: Man spricht dabei auch von der sogenannten «zweiten Vereinbarkeit von Beruf und Familie». Sie ist tatsächlich ein Problem. Die familienexterne Kinderbetreuung hat sich in den letzten Jahren
glücklicherweise vielerorts verbessert und innovative Arbeitgebende haben begonnen, auf dieses Phänomen zu reagieren. Aber was ist, wenn ich selbst eingeschränkt bin oder einen pflegebedürftigen Partner
habe? Oder meine Mutter oder mein Onkel nach einem Krankenhausaufenthalt wieder zu Hause sind? Nach wie vor wird es dabei stark auf freiwillige Hilfe ankommen. Es existieren auch schon Netzwerke aus freiwilligen und professionellen Personen. Aber erschöpfend ist das noch lange nicht. Manche Kinder möchten ihre Eltern auch nicht betreuen. Da werden noch Antworten auf allen Ebenen benötigt.
Stremlow: Hinzu kommt, dass die Ansprüche am Arbeitsplatz, an die Erziehung der Kinder und die Rollengestaltung der Eltern in den letzten 50 Jahren generell gestiegen sein dürften. Gleichzeitig werden Mütter und Väter immer älter. Die Pflege von Angehörigen bringt oft grosse körperliche und seelische Belastungen mit sich.
Früher lebten mehrere Generationen unter einem Dach – dieses Konstrukt und diese gegenseitige Versicherung existiert heute seltener. Welche Lösungen gibt es hierfür?
Stremlow: Trotz der vielen Stimmen, die eine Abnahme der Solidarität zwischen den Generationen feststellen, behaupte ich: Die Verpflichtung in Familien, Ältere zu versorgen, ist nicht kleiner geworden. Die sogenannte «intergenerationelle Solidarität» zwischen Kindern und ihren Eltern – und umgekehrt – hat, trotz modernster Lebensverhältnisse, nach wie vor Bestand und eine sehr grosse Bedeutung. Diese Form der gegenseitigen Fürsorge in Familien ist über Jahrtausende gewachsen und steckt sozusagen in unseren kulturellen Wurzeln. Heute ist es nicht mehr ganz so einfach, diese Solidarität zu leben, beispielsweise wegen der Arbeitstätigkeit beider Eltern. Gleichzeitig geht aus vielen Untersuchungen hervor, dass die Angehörigen den grössten Anteil aller Betreuung und Pflege der älteren Generation übernehmen – in der Schweiz werden jedes Jahr für mehrere Milliarden Franken Leistungen von Angehörigen erbracht. Aus meiner Sicht ist es ein Klischee, dass es früher besser war. Die intergenerationelle Solidarität ist kein Auslaufmodell – sie ist so aktuell wie eh und je.
Gretler Heusser: Der Begriff «mehrere Generationen unter einem Dach» ist meiner Meinung nach stark romantisiert. Ich kenne Personen, die dieses Leben unter einem Dach als etwas Furchtbares empfanden. Da waren wenig Platz und Raum für persönliche Entfaltung. Früher wurden die Menschen auch nicht so alt – es besteht heute ein immenser Betreuungsbedarf einfach deshalb, weil die Menschen immer älter werden und nicht wegen fehlender Mehrgenerationenhäuser. Zudem existieren heute viel mehr Möglichkeiten, Beziehungen zu gestalten und gelingende Netzwerke aufzubauen. Und es ist nicht selten ein Segen, nicht mehr nur auf die Familie angewiesen zu sein. Oft sind diese vernetzten Menschen sozial abgesicherter als Familien im ländlichen Raum – die sogenannte Stärke der schwachen Bindung. Die Bäckerin, der Coiffeur – das sind wichtige Vernetzungen, die zu den starken Bindungen dazukommen und Halt geben.
Wir haben bislang vor allem über die letzte Lebensphase und die Bedeutung der Angehörigen gesprochen: Was ist mit den jungen und «fitten» älteren Menschen? Welchen Beitrag könnten sie leisten?
Gretler Heusser: Ein passender Begriff ist hier die neue Freiwilligkeit, auf die man ein Stück weit baut. Es wird darauf vertraut, dass das sogenannte junge Alter, also frisch Pensionierte, Verantwortung übernimmt. Zum Beispiel kann diese Generation in altersgerechten Quartieren eine generationenübergreifende Klammer sein. Es gibt viele engagierte Personen, die diese Aufgabe annehmen. Dort liegt ein riesiges Potenzial. Es gibt dazu beispielsweise ein Pilotprojekt in Bern, die sogenannte «Caring Community». Es geht darum, ein Netz zu schaffen, eine Gemeinschaft aufzubauen und damit der individualisierten Gesellschaft mit ihren isolierten Milieus und abgekoppelten Lebensstilen etwas Verbindendes entgegenzusetzen – quasi als Gegenbewegung. Sich umeinander kümmern – über Generationen hinweg. Dies ist klar ein Bottom-up-Ansatz. Da wächst etwas aus einem Bedürfnis heraus.
Stremlow: Das globale Netzwerk der Weltgesundheitsorganisation, das bereits vor zehn Jahren ein Modell für «Age-friendly Cities and Communities» entwickelt hat, betont ebenfalls die wertvollen Ressourcen der Generationen der 65- bis 80-Jährigen in den Kommunen. In Bezug auf die politische Beteiligung sind wir aus meiner Sicht in der Schweiz ganz gut aufgestellt: Wir verfügen in den Gemeinden traditionell über eine hohe und institutionalisierte Beteiligungskultur, beispielsweise in Form von Alterskommissionen. Der Einbezug von Vertreterinnen und Vertretern der älteren Generation ist ein Mehrwert für die Alterspolitik.
Die subjektive Wahrnehmung des Alters hat sich weit nach hinten verschoben, ältere Menschen fühlen sich heute viel länger jung. Was bedeutet das für die Gesellschaft?
Gretler Heusser: Das sogenannte dritte Alter – das junge Alter – hat sich als neue Lebensphase zwischen die Erwerbsphase und das Alter geschoben. Das «richtige Alter» wird damit quasi in das vierte Alter, die Hochaltrigkeit, verschoben, wo Agilität ab- und Fragilität zunimmt. Gesellschaftlich haben wir im Umgang mit dieser Einteilung noch einige Probleme zu lösen. So findet teilweise eine starke Abwertung des Alters statt, gerade weil eine soziologische Verjüngung stattfindet, sich 60- und 70-Jährige heute noch fit und munter fühlen und es auch sind. Das kann so weit gehen, dass manche denken, sie hätten keine Existenzberechtigung mehr, sie seien überflüssig und würden ihr Leben besser beenden. Sterbehilfeorganisationen wie Exit haben zunehmend Anfragen von Menschen, die nicht todkrank, sondern einfach alt sind. Auch die Frage der Selbstbestimmung, die in unserem Leben sehr viel Platz einnimmt, bekommt im Alter ein anderes Gewicht. Selbstbestimmung bedeutet nicht, alles alleine zu schaffen. Das Schicksal annehmen und auf Hilfe zurückgreifen, gehört zu einem selbstbestimmten Leben dazu. Ein völlig selbstbestimmtes Leben ist aus meiner Sicht ohnehin eine Illusion. Man hat nicht alles selbst in der Hand.
Damit sind wir bei der Rolle des Staates. Wie gut ist die Schweiz bei der Gestaltung der Alterspolitik aufgestellt?
Stremlow: Aus dem klassischen Versorgungsblick heraus, also der Qualität der ambulanten und stationären Pflege, der Beratung für ältere Menschen oder der Finanzierung dieser Leistungen, ist die Schweiz im internationalen Vergleich hervorragend aufgestellt. Hier haben wir einen sehr hohen Standard. Nimmt man aber die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation, die unter einer umfassenden Gestaltung der Alterspolitik beispielsweise auch kulturelle Teilhabe, die aktive Mitgestaltung der älteren Bevölkerung oder eine breite und einfach zugängliche Palette unterschiedlichster Angebote versteht, dann besteht durchaus Handlungsbedarf. Viele Gemeinden, die in der Schweiz primär für die Alterspolitik
zuständig sind, sind hier zwar aktiv und mit vielen innovativen Ideen unterwegs. In anderen besteht als Ergebnis der Untersuchung, die wir kürzlich durchgeführt haben, aber Entwicklungspotenzial. Vor allem gilt es aus meiner Sicht, den Blick für eine umfassende, vielgestaltige Alterspolitik zu öffnen und die ältere Generation dabei gezielt einzubeziehen. Das Leben der älteren Menschen spielt sich letztlich in ihrem Quartier ab und auf diese unmittelbare Lebenswelt der Menschen sollten die Massnahmen der Politik ausgerichtet sein.
Welchen Forschungsthemen widmet sich die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit künftig in diesem Bereich noch?
Stremlow: Mich interessiert die quartierbezogene Forschung: Was ist notwendig oder förderlich, dass die alterspolitischen Bemühungen einer Gemeinde im unmittelbaren Lebensraum der Menschen – in ihrem Wohnumfeld – ankommen? Wie können die Ressourcen der Jüngeren und Älteren in einem Quartier für die gegenseitige Unterstützung und für das Zusammenleben genutzt werden? Welchen Beitrag kann hier die Soziale Arbeit, insbesondere die Soziokulturelle Animation, leisten?
Gretler Heusser: Eine gute Betreuung im Alter – was heisst das ganz genau und was bedeutet das für die Soziale Arbeit? Welchen Problemstellungen werden sich Fachpersonen – insbesondere Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter – auf diesem Gebiet zukünftig stellen müssen? Da gibt es noch viel zu erfahren und zu erforschen, nur schon im Beobachten und Aufzeigen von dem, was passiert. Mit welchen Bildern leben wir, von welchen Annahmen gehen wir aus?
Wie gehen Sie beide persönlich mit dem Älterwerden um?
Gretler Heusser: Beruflich befasse ich mich schon immer mit dem Thema Älterwerden. Das hat mich schon beeinflusst. Aber genau deshalb schaue ich ganz positiv in die Zukunft. Mir macht das Thema keine Angst, ich habe viele positive Vorbilder. Ich bin gelassener, das klingt nach Klischee, ist aber tatsächlich so. Der Körper wird allerdings schon langsamer, das ist nicht immer unbedingt angenehm – ich bekomme eben Grenzen aufgezeigt. Aber ich kann meistens gut damit umgehen und auch entspannt damit leben.
Stremlow: Mit Blick auf die Pensionierung freue ich mich auf die Selbstbestimmung in der Alltagsgestaltung, die dann wieder zunehmen dürfte. In meinem aktuellen Arbeitsalltag bin ich sehr eingespannt und «verplant». Gleichzeitig habe ich Respekt vor dieser neuen Lebensphase, denn es lässt sich nicht in Abrede stellen: Der Übertritt in die Pensionierung ist ein biografischer Übergang, der Risiken birgt. Wie gehe ich beispielsweise mit meiner eigenen Endlichkeit um, die mir schon jetzt jedes Jahr bewusster wird? Kann ich den neu gewonnenen Freiraum sinnstiftend nutzen? Wie kompensiere ich all die heutigen täglichen Begegnungen, in denen ich Eingebundenheit und Wertschätzung erfahre? Das sind Fragen, die sich im Laufe des Alterungsprozesses stellen können – und auf die jede, jeder für sich Antworten finden muss. Auch ich.
Herr Funk, was bedeutet der demografische Wandel für die Zukunft in Unternehmen?
Der demografische Wandel führt zwangsläufig zu einer Verknappung der Ressource «Mitarbeitende». Damit wird es immer wichtiger, als Arbeitgeber für die erwerbstätige Bevölkerung attraktiv zu bleiben. Dafür müssen die Unternehmen nicht nur in das Employer Branding, sondern auch in neue Arbeitsmodelle investieren. Vermehrt Arbeitsbedingungen anzubieten, die zum Beispiel Frauen ansprechen, ist ebenfalls ein Ansatzpunkt, der gerade in unserer Branche wichtig ist. Es ist aber auch wichtig zu bedenken, dass der Wertewandel in der Gesellschaft dazu führt, dass sich Unternehmen generell in ihrer Kultur anpassen müssen.
Was ist aus Sicht des Human Resources wichtig, um die Symbiose zwischen Alt und Jung harmonisch und gewinnbringend am Arbeitsplatz zu gestalten?
In diesem Punkt ist die schon angesprochene Unternehmenskultur ganz entscheidend. Da diese von der Führung gebildet wird, ist es sehr wichtig, als Führungsgremium aktiv Einfluss auf deren Veränderung zu nehmen. Das Unternehmen muss sich bewusst sein, dass die Generationen zum Teil völlig verschiedene Werthaltungen mitbringen und von unterschiedlichen Motivatoren getrieben werden. Die teils komplexen Herausforderungen in der heutigen Zeit können nur noch gemeinsam gelöst werden. Dazu braucht es sowohl Erfahrung als auch die Offenheit für neue Ansatzpunkte und Lösungswege. Weiter hilft auch der Abbau von starken hierarchischen Strukturen, um das Zusammen von Alt und Jung zu fördern. Für viele Unternehmen – auch für uns – bedeutet dies, dass wir stets an unserer Kultur arbeiten müssen, um die Ressourcen von Alt und Jung optimal nutzen zu können.
Wie gehen Sie das Thema der doppelten Vereinbarkeit bei der Schindler Aufzüge AG an?
Dieses Thema wird in der Gesellschaft sowie in den Firmen zunehmend wichtiger. Bei Schindler versuchen wir mit verschiedenen Massnahmen, dem entgegenzukommen. Wir bieten Teilzeitanstellungen an, haben ein flexibles Arbeitszeitmodell, offerieren Job-Sharing, verschiedene Pensionierungsformen, ermöglichen Home-Office und stellen allen Mitarbeitenden seit Dezember 2016 das professionelle und neutrale Angebot «familienservice» zur Verfügung. Diese neutrale Organisation unterstützt Schindler-Mitarbeitende individuell bei allen Fragen rund um Kinderbetreuung, Unterstützung von Familienangehörigen und Haushalt. Das heisst beispielsweise, dass Mitarbeitende unterstützt werden, wenn sie einen geeigneten Kitaplatz suchen, eine liebevolle Tagesfamilie für ihr Kind oder einen Entlastungsdienst für ihre pflegebedürftigen Eltern. Wir sind überzeugt, dass alle diese Massnahmen die Work-Life-Balance und die Zufriedenheit verbessern und so Stress und krankheitsbedingte Absenzen vermieden werden.