Interview: Eva Schümperli-Keller
Annette Dietrich, Elke Brusa, Jan G. Scheibe, Lehrpersonen können prägende Figuren für ihre Schülerinnen und Schüler sein. Gibt es solche Vorbilder in Ihrer eigenen Biografie?
E. Brusa: Ich habe in den späten 1980er-Jahren an der Schule für Soziale Arbeit Luzern studiert, eine der Vorgängerinstitutionen der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Es ging sehr familiär zu und her; entsprechend sind mir viele Dozierende in Erinnerung geblieben. Eine prägende Figur war Esther Weber: Wenn sie aus der Praxis erzählte, wurde die graue Theorie lebendig.
A. Dietrich: Ich habe an der katholischen Fachhochschule in Mainz studiert. Dort waren Dozentinnen angestellt, die nicht die in den Nachkriegsjahren traditionelle Rolle als Mutter und Hausfrau eingenommen hatten und sich in der Frauenbewegung engagierten. Sie haben mich geprägt.
J. Scheibe: Ich habe mir schon als Student überlegt, selber einmal zu unterrichten. Im Austauschsemester in Finnland lernte ich einen super Professor kennen. Er schien mir cool und junggeblieben zu sein – so ziemlich das Gegenteil von dem, was ich mir unter «Professor» gemeinhin so vorgestellt hatte. Dieser Dozent hat meine Berufswahl sicher beeinflusst.
Elke Brusa, Sie haben vor rund 30 Jahren an einer der Vorgängerschulen der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit studiert. Unterscheidet sich die damalige Ausbildung von der heutigen?
E. Brusa: Die Stossrichtung ist die gleiche geblieben: Die künftigen Sozialarbeitenden sollen Methoden-, Fach-, Selbst- und Sozialkompetenzen erwerben, um ihren Klientinnen und Klienten Hilfe zur Selbsthilfe leisten zu können. Mir wurde in meiner Ausbildung der sprichwörtliche Rucksack mit dem nötigen Rüstzeug fertig gepackt überreicht; heute packen ihn die Studentinnen und Studenten selber, und zwar individuell auf ihre Interessen ausgerichtet. Das bietet mehr Möglichkeiten zur Tiefe; für uns Dozierende ist es aber anspruchsvoller geworden, die individuellen Entwicklungsprozesse der Studierenden zu begleiten.
Annette Dietrich, als Praxisverantwortliche haben Sie einen direkten Draht zu den Praxisorganisationen. Was verlangen diese von unseren Absolventinnen und Absolventen?
A. Dietrich: Sie möchten künftige Mitarbeitende, die flexibel, belastbar und teamfähig sind, mit ihren Klientinnen und Klienten in Kontakt treten können und herausfordernde Situationen meistern. Es ist also Persönlichkeitsbildung gefragt. Wir müssen den Studierenden Möglichkeiten bieten, ihre Selbst- und Sozialkompetenzen zu trainieren.
E. Brusa: Damals wurden wir Studierenden in Arbeitsgruppen eingeteilt; ich erinnere mich etwa an die Mensagruppe, welche die Cafeteria betrieb. Das waren gute und ganz natürliche Gelegenheiten, Selbst- und Sozialkompetenzen einzuüben. Heute müssen wir als Dozentinnen und Dozenten solche Settings kreieren.
Jan G. Scheibe, Sie interessieren sich für didaktische Methoden. Welche hält die Studierenden garantiert bei der Stange?
J. Scheibe: Ich bin ein Fan der agilen Didaktik, denn sie ermöglicht es, mit den Studierenden zu interagieren. Es kommt vor, dass ich vor die Klasse trete und sage: «Das ist unser heutiges Thema. Was interessiert euch daran?» Dann verhandeln wir, welche Aspekte wir im Unterricht aufgreifen. Manchmal kommen Themen auf, mit denen ich mich selbst noch nicht stark beschäftigt habe. So lerne auch ich immer wieder Neues dazu.
A. Dietrich: Mit der agilen Didaktik befinden wir uns in einem kooperativen Lernprozess mit den Studierenden.
J. Scheibe: Ich nehme dabei eine fragende Haltung ein, etwa so, wie ich es in der Beratung auch tue.
E. Brusa: Da stimme ich dir zu: Die Erfahrungen aus der Beratung kann ich in der agilen Didaktik wunderbar nutzen. Hier wie dort muss ich auf Situationen flexibel reagieren und kann nicht einfach einem vorgegebenen Programm folgen. Ich habe allerdings nach einigen Jahren als Dozentin gemerkt, dass mir mein eigenes Kapital ausgeht, nämlich mein Know-how aus der Praxis und Fallbeispiele, um die Theorie zu veranschaulichen. Deshalb habe ich vor sechs Jahren eine Beratungspraxis gegründet. Die Arbeit an der Hochschule und die Beratungsarbeit befruchten sich so gegenseitig.
Braucht es diesen «Fuss» in der Praxis für eine gute Lehre?
A. Dietrich: Die Hochschule Luzern – Soziale Arbeit ist eine Fachhochschule; die Praxisorientierung gehört zur Identität dazu. Aufgrund meiner Funktion bin ich mit den Praxisorganisationen im steten Austausch. Den Kontakt zur Praxis pflege ich aber auch anderweitig: Aktuell mache ich eine Weiterbildung zur Familienratskoordinatorin und eine Evaluation dazu, wie dem Familienrat, der etwa in Neuseeland vor der Fremdplatzierung eines Kindes vorgeschrieben ist, in der Schweiz zum Durchbruch verholfen werden könnte.
J. Scheibe: Ich finde den «Praxisfuss» ebenfalls sehr wichtig. Ich würde es beispielsweise begrüssen, wenn wir an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit eine Beratungsstelle führen würden, ähnlich wie eine Universitätsklinik, die Patientinnen und Patienten betreut und die Fälle für die Ausbildung ihrer Studierenden nutzt.
Auf Ebene der Fachhochschulen wird in der Sozialen Arbeit auch geforscht. Warum braucht es Forschung?
E. Brusa: Eine Disziplin auf Fachhochschulebene zu sein, ist für die Soziale Arbeit eine wichtige Basis für ihre Anerkennung. Gleichzeitig ist die anwendungsorientierte Forschung ein Leistungsauftrag der Fachhochschulen. Deshalb lautet meine Antwort ganz klar: Ja! Zudem wollen wir die Wirkung unserer Leistungen nachweisen können: Mit unseren Evaluationen erbringen wir diesen Wirkungsnachweis. Und nicht zuletzt sollten wir die Forschung zu Themen, die wir als Themenfelder der Sozialen Arbeit erkannt haben, nicht anderen Disziplinen überlassen, sondern das Wissen dazu selber generieren.
A. Dietrich: Ich finde den Wissenstransfer von Forschungsergebnissen in die Aus- und Weiterbildung essenziell, damit wir diese à jour halten können. Ich arbeite zurzeit an einem Forschungsprojekt zur Rolle der Sozialpädagogik in den schulergänzenden Tagesstrukturen. Dabei schwingt stets die Frage mit, was das für die Ausbildung unserer zukünftigen Sozialarbeitenden bedeutet.
J. Scheibe: Die Forschung bietet Grundlagen für die Praxis, für Entscheidungsträgerinnen und -träger, für die Integration von Adressatinnen und Adressaten der Sozialen Arbeit und die Weiterentwicklung der Profession. Die Forschungserkenntnisse helfen uns auch dabei, unsere Identität als Sozialarbeitende immer wieder kritisch zu hinterfragen.
E. Brusa: Peter Sommerfeld, Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz, hat es so formuliert: «Die Zukunft der Sozialen Arbeit hängt von ihr selber ab.» Wir alle haben es in der Hand, ob die Soziale Arbeit eine ernstzunehmende Profession mit sozialpolitischem Einfluss ist – oder eben nicht.