Flavia Dubach
Der Zugang zu Sexualität hat sich in den letzten Jahren enorm vereinfacht. «Spielarten von Sexualität sind in unserer Gesellschaft immer und überall vorhanden», schreibt Anna Jahn, Absolventin des MAS Sexuelle Gesundheit im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich, in ihrer Abschlussarbeit. Als Beispiele für den erleichterten Zugang nennt sie Veränderungen in den gesellschaftlichen Normen und Werten und das breite Angebot an Pornografie im Internet, Dating-Apps oder Portale für käufliche Liebe. «Das Suchtmittel Sex ist für Menschen mit exzessivem Sexualverhalten überall und dauernd im Überfluss verfügbar.» Betroffene benötigten deshalb mehr denn je Lösungswege, die einen Veränderungsprozess in Richtung nichtabhängiger Sexualität ermöglichten.
Verhaltenssucht mit negativen Folgen
In ihrer Arbeit erläutert Jahn, dass es sich bei der Hypersexualität um eine Verhaltenssucht handelt. Die Betroffenen entwickeln ein gesteigertes sexuelles Verhalten, das ihrem Wohlbefinden nicht zuträglich ist. Sie erschaffen ein negatives Selbstbild und werden von starken Schuld- und Schamgefühlen sowie der ständigen Angst vor Blossstellung geplagt. Die Betroffenen haben Schwierigkeiten, soziale Beziehungen oder Partnerschaften aufzubauen oder aufrechtzuerhalten. Vielfach endet Hypersexualität in Beziehungsstörungen, sozialem Rückzug, erheblichen finanziellen Problemen – z. B. durch häufige Bordellbesuche – und Konflikten mit dem Gesetz durch illegalen Pornografiekonsum.
Ganzheitlicher Ansatz
«Im Veränderungsprozess unterstützt die Fachperson Betroffene am effektivsten, wenn sie stets eine wertschätzende und nicht urteilende Haltung bewahrt und so eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung ermöglicht», so Jahn, die selbst als Beraterin/Ergotherapeutin in der psychiatrischen Klinik Clienia Schlössli AG arbeitet und sich vor dem Hintergrund ihres MAS-Abschlusses beruflich weiterentwickeln konnte, indem sie heute innerhalb ihrer Anstellung Gruppen- und Einzelangebote zum Thema Sexualität anbietet. Die Beratung bei exzessivem Sexualverhalten soll vor allem dazu führen, alternativ Verhaltensmuster aufzubauen, die soziale Kompetenz der Betroffenen zu fördern und sinnvolle Freizeitaktivitäten zu entwickeln. «Beraterinnen und Berater müssen genau hinhören, ob die oder der Betroffene nicht einfach nur ein Verhalten wie z. B. notorisches Fremdgehen legitimieren möchte. Ausserdem ist es wichtig, dass die Fachperson ein häufiges und ausschweifendes Sexualleben keinesfalls ohne fundierte Abklärung als sexuelle Sucht pathologisiert. Sind diese Fragen geklärt, muss das Problem ganzheitlich angegangen werden – dazu gehört auch der Einbezug von Partnerinnen und Partnern der Betroffenen. Für sie kann die Vermittlung von Informationen über exzessives Sexualverhalten von grosser Bedeutung sein.»
Trigger vermeiden – Skills trainieren
In ihren Handlungsempfehlungen für die Praxis erläutert Jahn, dass Fachpersonen als vorbeugende Massnahmen vor allem Skills (Fertigkeiten) und Trigger (Auslöser) behandeln sollten. Im Skills-Training werden Fertigkeiten geübt, die den Betroffenen in schwierigen Situationen helfen. Dazu gehören die Steigerung der Stresstoleranz, der Umgang mit Gefühlen, das soziale Kompetenztraining und die Achtsamkeit gegenüber sich selbst und anderen. Weiter wird genau eruiert, welche Auslöser bei den Betroffenen zu Suchtverhalten führen. Bei exzessivem Pornokonsum kann schon das Einschalten des Smartphones zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ein unwiderstehlicher Trigger sein. Diese Situationen gilt es zu erkennen und andere Reaktionsmuster zu erarbeiten. «Im besten Fall können Beraterinnen und Berater die Betroffenen auf einem Stück ihres Weges begleiten und Ideen aufzeigen, wie sie Sexualität, Nähe, Lust, Liebe und Bindung wieder selbstbestimmt und würdevoll erleben können.»