«Sie sind doch der Beistand – warum sorgen Sie nicht für Ordnung?»
Grösstmögliche Selbstbestimmung – differenzierte Unterstützung, wo nötig: Diese Grundidee des seit Januar 2013 geltenden Kindes- und Erwachsenenschutzrechts wird mit massgeschneiderten Beistandschaften umgesetzt. Für die mandatsführenden Fachpersonen eine herausfordernde Aufgabe.
Isabel Baumberger
Klaus R. arbeitet seit einem Jahr als Beistand im Kindes- und Erwachsenenschutz-Dienst einer Schweizer Kleinstadt. Zu Anfang habe er in Diskussionen zu juristischen Themen jeweils «nicht viel mehr als Bahnhof» verstanden. Inzwischen hat er Praxiserfahrung hinzugewonnen – und das CAS Mandatsführung absolviert, das die Hochschule Luzern in Kooperation mit der Berner Fachhochschule durchführt. Nun fühle er sich auch in rechtlichen Belangen sicherer, so der Sozialpädagoge.«Denn ich kann die gesetzlichen Grundlagen mit vielen Praxisfällen verbinden, die wir hier diskutiert haben.» Umgekehrt ging es der Juristin Priska S., die als Leiterin einer Berufsbeistandschaftsabteilung in der Ostschweiz nach einer Reorganisation nun auch eigene Mandate führt. «Für mich war es optimal, mich hier vertieft damit auseinandersetzen zu können, was die rechtlichen Grundsätze in der Praxis bedeuten.» Die praktische Umsetzung des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrechts sei jedoch nicht immer einfach zu bewältigen, sagt Claudia R., die ein Team von vier Berufsbeiständinnen leitet und ebenfalls das CAS Mandatsführung absolviert. «Für mich war die stärkere Gewichtung der Befähigung zur Selbstbestimmung im neuen Recht eine wesentliche Motivation für den Berufswechsel», erklärt die ehemalige Schulsozialarbeiterin, «und ich bereue den Schritt keine Sekunde.» Aber die Arbeit im Spannungsfeld zwischen grösstmöglicher Freiheit des Klienten bzw. der Klientin einerseits und der notwendigen Betreuung andererseits sei nicht nur spannend, sondern auch sehr anspruchsvoll: «Ich bin permanent am Ausloten – wo ist mein Eingreifen nötig, wo nur Begleitung oder Coaching? Manchmal muss ich auch bewusst in Kauf nehmen, dass ein Fehler passiert, damit die betroffene Person daraus lernen kann.»
Vertrauensverhältnis aufbauen
Die Grundhaltung, verbeiständete Personen in ihrer Eigenständigkeit zu unterstützen, sei im Berufsverständnis der Sozialen Arbeit keineswegs neu, meint Diana Wider, Dozentin und Projektleiterin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. «Aber jetzt ist diese Haltung im Artikel 406 des Zivilgesetzbuches festgeschrieben. Das heisst, der Beistand oder die Beiständin muss ein Vertrauensverhältnis zur betroffenen Person anstreben und deren Willen achten, das Leben entsprechend ihren Fähigkeiten nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.» Dies sei aber zeitaufwändig und oft schwer zu vereinbaren mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen, erläutert Wider, die im November 2015 das erste Netzwerktreffen von Führungskräften des Bereichs Berufsbeistandschaften leitete. Der Umgang mit knappen Ressourcen sei dort ein zentrales Thema gewesen.
Austesten und Fördern von Eigenverantwortung
Auch beim Berufsverband ist der Widerspruch zwischen Mittelknappheit und dem Anspruch, Selbstbestimmung zu stärken, ein wichtiger Diskussionspunkt. Ebenso die Frage, wie dieser Anspruch mit den Erwartungen des sozialen Umfelds zu vereinbaren sei, erklärt Stephan Preisch, Präsident der Vereinigung aargauischer Berufsbeiständinnen und Berufsbeistände. «Beim Austesten und Fördern dessen, was eine verbeiständete Person selbstverantwortlich meistern kann, müssen die Dinge auch mal schieflaufen dürfen », so der Co-Stellenleiter Kindes- und Erwachsenenschutzdienst des Bezirks Baden. «Wenn ich jemanden zum Beispiel dazu befähigen will, seine Finanzen möglichst eigenständig zu handhaben, klappt das kaum im ersten Anlauf. Wenn die Miete aber nicht pünktlich bezahlt wird, sagt der Vermieter zu mir: ‹Sie sind doch der Beistand – warum sorgen Sie nicht für Ordnung?› Die Diskussion mit dem Vermieter zu führen ist aufwändiger als die Rechnungen einfach zu bezahlen. Aber nur so hat der Klient eine Chance, sich weiterzuentwickeln – womit wir wieder bei der Frage der Zeitressourcen sind.» Nach einer Berechnung der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) haben Berufsbeistandschaften durchschnittlich – je nach Fallzahlen und sonstigen Rahmenbedingungen – jährlich 16 bis 26 Stunden pro Klient bzw. Klientin zur Verfügung. «Man kann sich ja vorstellen», so Diana Wider, «dass das in vielen Fällen nicht ausreicht, wenn man die Betroffenen nicht nur verwalten, sondern nach individuellen Bedürfnissen unterstützen will.»
Navigieren und Ressourcen erschliessen
Weitere Herausforderungen für Berufsbeistandschaften seien die steigende Komplexität der Fälle und das Wegbrechen familiärer Unterstützungsstrukturen – bei gleichzeitig härterer Gangart in Wirtschaft und Sozialpolitik, meint Ursula Leuthold. Sie ist seit September 2015 Verantwortliche des Kompetenzzentrums Kindes- und Erwachsenenschutz an der Hochschule Luzern. «Wir sehen immer mehr Menschen, die nicht nur ein Problem haben, sondern mehrere. Ein alleinerziehender Elternteil mit Migrationshintergrund in prekärer Arbeitssituation zum Beispiel kommt finanziell nicht über die Runden. Er will aber keine Sozialhilfe beanspruchen, weil er um seine Aufenthaltsbewilligung fürchtet. Dann kommen vielleicht noch eine psychische Erkrankung und eine Arbeits- oder Wohnungskündigung dazu, und das kaum mehr betreute Kind wird in der Schule auffällig. Hier hat ein Beistand oder eine Beiständin eine recht komplexe Aufgabe.» Zudem gebe es zwar viele Unterstützungsangebote, beispielsweise im Wohnbereich, aber wegen der zunehmenden Differenzierung sei die Suche nach der richtigen Lösung aufwändig: «Gerade weil man die betroffene Person mitentscheiden lassen will, ist es wichtig, sie sorgfältig durch das für sie wenig durchschaubare Sozial- und Gesundheitswesen zu navigieren und ihr Ressourcen zu erschliessen.»
Berufsbeistandschaften: Zwei «Fälle»
Fall 1: Daya und die Angst vor der Mathematik
«Die zwölfjährige Tamilin Daya* fällt in der Schule durch ihre Traurigkeit und panische Angst vor Rechenaufgaben auf. Der Schulsozialarbeiter vermutet, es gebe Gewaltvorfälle zwischen ihren Eltern. Mit 13 schwänzt Daya oft die Schule, treibt sich mit anderen Jugendlichen herum und ist selten zu Hause. Als die Mutter den Vater verlässt, sucht Daya Zuflucht in der sozialpädagogischen Einrichtung ‹Schlupfhuus›, und es wird für sie eine Beistandschaft errichtet. Gemeinsam finden wir eine Wohnmöglichkeit, wo sie betreut wird und die öffentliche Schule besuchen kann. Aber sie kommt dort nicht zurecht, schwänzt weiter die Schule und schluckt eines Tages eine Menge Tabletten; ob es ein Suizidversuch ist, bleibt unklar. Wir beschliessen ein Time-out in einer Beiz auf dem Land – und haben Glück: Dort kann sie eine gute Beziehung zur Wirtin aufbauen, hat eine Aufgabe und kommt zur Ruhe. Inzwischen ist Daya 14 und soll wieder zur Schule gehen. Wir bringen sie in einer Pflegefamilie unter, nach zwei Tagen taucht sie jedoch wieder im ‹Schlupfhuus› auf. Sie möchte beim Vater wohnen, der arbeitslos ist. Mithilfe einer sozialpädagogischen Familienbegleitung, die Daya und ihren Vater dabei unterstützt, Regeln für das Zusammenleben zu bestimmen und den Alltag zu gestalten, gelingt dieser Wohnversuch. Wir finden auch eine kleine Schule, die intensiv mit jedem einzelnen Kind arbeitet – Daya hat viel nachzuholen, vor allem in Mathematik. Aber sie schafft es und macht einen Schulabschluss. Es folgt der Beginn einer Lehre, ein Lehrabbruch, danach ein Berufsfindungsjahr in einer sozialpädagogischen Einrichtung. Inzwischen hat sie dort eine interne KV-Lehrstelle erhalten und macht sogar schon ein Praktikum an einem externen Arbeitsort. Während der ganzen Zeit war ich sozusagen ihre Navigatorin, blieb mit ihr im Kontakt, war an zahlreichen Standortgesprächen in Schulen und sozialen Einrichtungen, begleitete sie zur Berufsberatung, half bei der Lehrstellensuche, und so weiter. Nicht jede Geschichte verläuft so erfolgreich; oft muss man schon zufrieden sein, wenn sich jemand über Wasser halten kann, ohne delinquent oder psychisch sehr krank zu werden. Aber man arbeitet in einem Team von engagierten Berufsleuten und freut sich auch über kleine Erfolge.»
Ursula Leuthold, Verantwortliche Kompetenzzentrum Kindes- und Erwachsenenschutz und bis 2015 Berufsbeiständin in einem Zürcher Sozialzentrum
Fall 2: Kein pflegeleichter Normalbürger
«Der Schiffskoch Peter M.* erleidet im Alter von 57 Jahren einen Hirnschlag und kann sich nur noch sehr schlecht mit anderen Menschen verständigen. Das macht ihn aggressiv, weil er oft nicht begreift, was man von ihm will, und dann kommt es zu unerfreulichen Szenen mit Gebrüll. Im Konflikt mit seinem Vermieter verliert er die Wohnung, zudem hat er finanzielle Probleme. Als sein Beistand hatte ich zunächst vor allem für eine angemessene Wohnmöglichkeit zu sorgen. In der ersten betreuten WG klappte das nicht, aber dann fanden wir einen Ort, an dem er sich wohlfühlen konnte. Inzwischen jedoch, wo zu seiner Hirnverletzung noch andere, altersbedingte Beeinträchtigungen hinzukommen, braucht er mehr Betreuung und ist in einer Art Pflege-Wohngemeinschaft untergebracht. Hier ist es für ihn nicht immer einfach, und manchmal macht er es mit seiner aufbrausenden Art auch der Umgebung schwer. Aber ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, Peter M. zu einem netten, pflegeleichten Normalbürger zu machen. Eher versuche ich, zu vermitteln und Verständnis dafür zu schaffen, dass er – auch mit seinen Schwierigkeiten und Mängeln – nicht abseits stehen, sondern ein Mitglied der Gemeinschaft sein will. Das braucht Geduld, Nerven und viele Gespräche mit den verschiedenen Beteiligten. Aber ich bin immer wieder positiv davon überrascht, wie viel man als Beistand erreichen kann. Für mich ist es ein fantastischer Job.»
Stephan Preisch, Co-Stellenleiter Kindes- und Erwachsenenschutzdienst des Bezirks Baden und Präsident der Vereinigung aargauischer Berufsbeiständinnen und Berufsbeistände
Aufgezeichnet von Isabel Baumberger
* Alle Namen geändert